Haydns Orlando Paladino – die wirklich wahre Geschichte.

 

    Die meisten Menschen denken, Künstler bringen Kunstwerke aus einem puren inneren Drang hervor. Ich allerdings kann mich des Eindrucks nicht erwehren, dass die größten Kunstwerke oft dann entstehen, wenn scheinbar zufällige Umstände sich unvorhersehbar verketten und zu einem zwingenden Anlass verdichten.
    Das Libretto zu Haydns Orlando Paladino wird gar nicht für Haydn geschrieben, sondern für eine Oper von Pietro Allessandro Guglielmi. Und Haydn soll anno 1782 auch nicht selbst eine Oper schreiben, sondern nur Guglielmis Oper zur Aufführung bringen – in seiner Eigenschaft als Opernkapellmeister auf Schloss Esterhaza. Reine Routinesache. Doch da sagt sich zufällig hoher Besuch an: Großfürst Pawel Petrowitsch, der spätere russische Zar, will mit Gattin Maria Fjodorowna, einer Württembergischen Prinzessin, auf seiner Reise vorbeikommen. Diesen beiden erlauchten Musikkennern ein zehn Jahre altes Stück vorsetzen? Entschieden zu riskant. Also soll Kapellmeister Haydn ausnahmsweise eine neue Oper schreiben, auf das Libretto des ursprünglich vorgesehenen Werkes. Es stammt aus der Feder von Carlo Francesco Badini, doch schon Guglielmi hat es zweimal umarbeiten lassen – von Nunziato Porta. Und Nunziato Porta ist zufällig seit kurzem Theaterdirektor auf Schloss Esterhaza und für die Auswahl des Repertoires zuständig. Dann ändert das Großfürstenpaar seine Reiseroute. Es kommt niemals nach Esterhaza, auf seiner Reise nach Stuttgart (wo im übrigen Friedrich Schiller darauf wartet, das Tohuwabohu des hohen Besuchs für seine berühmte Flucht nach Mannheim zu nützen…). Egal, die Oper ist fertig komponiert und wird am Namenstag von Fürst Nikolaus, am 6. Dezember 1782, auf Schloss Esterhaza uraufgeführt.
    Orlando Paladino, das komisch-heroische Drama, ist Joseph Haydns witzigste Oper. Ich frage mich, warum eigentlich.
    Ritter liebt Prinzessin. Die liebt einen anderen. Ritter verfällt aus unerfüllter Liebe dem Wahnsinn und trachtet der Prinzessin und diesem Anderen nach dem Leben. Gute Fee rettet die beiden Guten in letzter Minute vor dem Bösen.
Was soll daran komisch sein? Die Geschichte erscheint mir doch ziemlich ernst! Vielleicht verschafft uns ein genauer Blick auf die Hauptpersonen Klarheit. Und dann kommen ja auch noch ein paar Figuren hinzu.
    Die Prinzessin: stammt aus dem fernen Cathay (Nordchina) und heißt Angelica. Sie ist liebreizend und schön. So sagenhaft schön ist sie, dass ihr praktisch die ganze mittelalterliche Männerwelt zu Füßen liegt. Der Ritter: ist ein Franke, Neffe von Karl dem Großen und heißt Orlando. Der wahnsinnige, ach so böse Orlando nun verfolgt Angelica, nur weil sie diesen anderen liebt! Die Ärmste – und so unschuldig! Dieser andere: ist der schöne Sarazenen-Krieger Medoro. Natürlich lebt Angelica fortan in panischer Angst um sich und ihren Liebsten. Wie gut, dass sie so einen guten Draht zur guten Fee hat. Die Fee: heißt Alcina. Die Wohltäterin der Menschheit rettet die Prinzessin samt Medoro. Mit einer Art Gehirnwäsche nämlich heilt sie des ach so bösen Orlando pathologischen Liebeswahn. Damit das Ganze nicht zu einfach wird, tobt in regelmäßigen Abständen eine Art Terminator ziel- und planlos durch die Szenerie, ein hirnloser heidnischer Sarazene namens Rodomonte, der alles, was christlich und fränkisch ist, blindwütig niedermetzeln will; und um den Ernst der Geschichte zu brechen, zwitschert und plappert sich ein Liebespaar niederen Standes dazwischen, die Schäferin Eurilla und Orlandos Knappe Pasquale. Doch alle drei haben keinen wirklichen Einfluss auf das Geschehen. Erst recht nicht der Schäfer Licone (Eurillas Vater) und Caronte (der als Fährmann der Unterwelt am Ende Beihilfe zur Gehirnwäsche leistet). Sie sind nur Statisten.
    Der Plot ist weder ernst noch komisch, das gilt auch für den Text. Haydn jedoch komponiert sowohl Ernst wie auch Komik und zwar vorzugsweise dort, wo wir das jeweils andere erwarten würden, hinterhältigerweise aber längst nicht immer. Ein undurchsichtiges Vexierspiel. Wie macht Haydn das nur und warum? Er ist ein genialer Komponist, ja, und ein humorvoller und witziger Mensch mit untrüglichem  psychologischem Instinkt. Doch wir müssen auch wissen: er weiß etwas, was wir nicht wissen – und das Publikum von 1782 teilt dieses Wissen.
Orlando Paladino basiert auf einer Episode aus einem Weltbestseller, der bis weit ins neunzehnte Jahrhundert so bekannt ist wie Grimms Märchen: Orlando Furioso, ein Meisterwerk der Weltliteratur aus der Komödienwerkstatt des Renaissance-Dichters Ludovico Ariosto, erstmals erschienen im Jahre 1516. Das Epos in 46 Gesängen ist die Mutter aller Fantasy-Romane, eine Wühlkiste, aus der sich Scharen von Librettisten bedienen und dient bis heute als (geheime) Inspirationsquelle für Dichter, Autoren und Filmemacher. Das besondere daran ist unter anderem, dass Ariosto radikal subjektiv schreibt, sich nicht um die Einheit von Zeit und Raum schert und sich immer wieder mit sehr persönlichen Kommentaren in das Geschehen einmischt. Der historische und inhaltliche Rahmen ist einfach. Es geht um den Konflikt Christen gegen Heiden zur Zeit Karls des Großen – Karls Paladine (Ritter) kämpfen gegen Sarazenen und spanische Mauren. Doch was spielt sich in diesem schlichten Rahmen nicht alles ab! Auf 1700 Buchseiten entfaltet sich ein Feuerwerk aus üppiger Phantasie, schwarzem Humor, augenzwinkernder Weisheit und prallem Leben. Sehr männliche Helden kämpfen wegen Nichtigkeiten, aus Prinzip und weil sie ihr Spielzeug (Pferd, Waffe, Frau) verteidigen müssen. Verliebt jagen sie Frauen nach, obwohl es ihnen am Ende doch vor allem um Ruhm und Ehre geht, während sehr weibliche Frauen, gleichberechtigt, im Kampf ihren Mann stellen, obwohl es ihnen am Ende doch vor allem um die Liebe geht. Beide Geschlechter verwenden modernste Technik – sprechende Fortbewegungsmittel mit eingebautem Navigationssystem, Lichtblitzschwerter, Zeitmaschinen, Fluggeräte, die mit Überschallgeschwindigkeit die Strecke Paris–China–Paris fliegen oder auch zum Mond. Wenn nötig, werden Wesen aus fernen Galaxien hergebeamt, der Erzengel Michael zum Beispiel oder Johannes, der Evangelist. Liebesszenen, in denen eindeutig mehr als nur angedeutet wird, wechseln mit brutalen Kampfszenen, in denen Schädel gespalten werden und durch die Luft fliegen wie Krautstrünke. Kämpfe werden aber auch ständig unterbrochen oder verschoben (weil es z.B. eine nackt an Felsen gekettete Jungfrau mit alabasterweißem Körper vor einem Meerungeheuer zu retten gilt), denn: getan werden muss, bei aller Zielstrebigkeit, immer das Nächstliegende. Gelebt wird – das Leben, und dieses ist eine sehr realistische Mischung aus freiem Willen und außerirdischen Mächten, höheren wie auch tieferen.
    Ich würde ja gerne weitererzählen, zum Beispiel die Geschichte mit dem impotenten Mönch oder die mit der edlen Dame, die sich in einen Mann verliebt, der sich als Frau entpuppt, aber ich muss mich jetzt wieder um Haydns Oper kümmern, genauer gesagt um das Vorleben seiner Figuren, das nicht unbeträchtlich zur Spannung, zum Ernst und zur Komik beträgt.
    Angelica hat allen Grund zur Angst. Nichts als benützt hat sie die Männer bisher! Stachelt sie reihenweise an, um sie zu kämpfen und stellt vage ihre kostbare Unschuld in Aussicht. Dabei braucht sie nur Bodyguards und Kämpfer, die sie bei Nichtbedarf fallen läßt, kaltblütig. Ihre Unschuld behält sie natürlich. Ritter Orlando ist besonders schlimm dran. Monatelang kämpft er Tag und Nacht unter Einsatz seines Lebens gegen ihre Feinde. Sogar seinen Treueschwur als Paladin von Onkel Karl bricht er ihretwegen! Sein Riesenpech: Er liebt Angelica als einziger echt und aufrichtig. Und wird deshalb auch als einziger wahnsinnig. Als er Angelicas Falschheit erkennt, reißt er sich die Kleider vom Leibe, wirft seine Waffen weg, verjagt sein Pferd und tobt drei Monate lang besinnungslos durchs Land. Täter – oder doch Opfer? Amor jedenfalls sinnt auf Rache und beschießt Angelica gnadenlos, als sie sich über einen schwer verletzten Sarazenen-Jüngling beugt. Medoro. Wunderschön, mit goldblondem Kraushaar  und schwarzen Augen – wie Angelica. Sanft, aber keineswegs ein Feigling. Er hat soeben unter Einsatz seines Lebens den Leichnam seines Herrn bestattet. Angelica pflegt ihn aufopfernd gesund und verliebt sich erstmals selbst. Vielleicht, weil sie zum ersten Mal etwas gibt, anstatt nur zu nehmen; das macht Medoro so wertvoll. Alcina ist keinen Deut besser als Angelica. Von wegen gute Fee! Nicht nur hat sie ihrer Schwester die Hälfte der gemeinsamen paradiesischen Insel brutal weggenommen. Ihre Lieblingsbeschäftigung besteht überdies darin, Männer zu benebeln, zu vernaschen und, sobald sie genug von ihnen hat, in Bäume und Pflanzen zu verwandeln – oder in Steine. Rodomonte schließlich ist tatsächlich ein wilder, wütender Kämpfer. Doch auch seine Liebste hat sich einem anderen hingegeben, kaum dass er ihr den Rücken gekehrt hat: Seine Wut entspringt auch seiner eigenen Verletztheit.
    Hab ich‘s doch gleich gehört! Auch wenn der Librettist Figuren noch so ummodelt – ihr ursprünglicher Charakter bleibt erhalten. Ich nehme einmal Haydns Musik als Beweis.
    Haydn überzeichnet alle Figuren mit voller Absicht – bis auf Orlando. Seine Musik entlarvt, trifft gnadenlos das Wesen, bricht Ernst in Komik und umgekehrt und macht die Figuren erst zu Menschen. Angelica: leidet und liebt zu viel; ihr schlechtes Gewissen blitzt durch. Medoro: leidet so gerne und viel, dass nur wenig für die wahre Liebe übrig bleibt. Diagnose – sekundär verliebt. Eurilla und Pasquale: sind zu unbeschwert – mehr in die Vorstellung von Liebe und in das Drumherum verliebt als in einander. Rodomonte: hat der Wutentbranntheit zu viel – da schimmert unbeholfene Gutmütigkeit durch. Alcina: macht zu viel Theater. Sie ist zu gut, um wahr zu sein. Nur wenn Orlando auftritt, sind alle Zweifel weggeblasen. Das sind echte Gefühle. Echter Schmerz, echte Liebe, echter Wahnsinn. Ironie des Schicksals: Nur der echt Wahnsinnige ist wahnsinnig echt.  

    Für alle, die am liebsten ein wirkliches Happy End gehört hätten, kann ich eines anbieten: Bei Ariosto wird Orlando nicht mit Psychopharmaka behandelt, sondern wirklich geheilt. Sein Cousin holt ihm nämlich den Verstand, den er durch Angelica verloren hat, zurück. Vom Mond. Dort wird im übrigen alles aufbewahrt, was irgendwann auf der Erde verloren ging. Nur eines sucht man laut Ariosto vergeblich: die Dummheit. Die ist anscheinend immer noch bei uns auf der Erde zu finden. (© Sabine M. Gruber 2006)

 

Weitere unterhaltsame Beiträge zum Thema "Haydn"

 

Zur Übersicht