Anton Bruckner (1824-1896) Tantum ergo – 21 Geistliche Gesänge



1 Tantum ergo                
2 Ecce sacerdos
3 Christus factus est
4 Tantum ergo
5 Ave Maria
6 Tota pulchra es
7 Tantum ergo
8 Ave Maria
9 Afferentur
10 Tantum ergo
11 Virga Jesse
12 Vexilla regis
13 Tantum ergo
14 Os justi
15 Asperges me
16 Pange lingua
17 Aequale
18 Libera me
19 Aequale
20 Locus iste
21 Tantum ergo

 

 

Tantum ergo.

Anton Bruckner wird am 4. September 1824 in Ansfelden geboren und wächst in einem streng katholischen Elternhaus auf. Frömmigkeit, Demut, Entsagen sind die bestimmenden Werte seiner Kindheit und Jugend. Als sein Vater, Dorfschullehrer und Organist, der ihm die Grundbegriffe des Orgelspiels beigebracht hat, stirbt, ist er noch keine dreizehn Jahre alt. Die Mutter schickt ihn in die Pfarrschule nach St. Florian, wo er wegen seiner engelsgleichen Stimme als Sängerknabe aufgenommen wird und eine fundierte und vielseitige musikalische Ausbildung erhält. Die früh etablierte Verbindung zwischen Religion und Musik bestimmt sein Leben und sein musikalisches Schaffen ebenso, wie der frühe Tod des Vaters und die überaus enge Bindung an die Mutter. Sein Beiname, Musikant Gottes, pathetisch zwar, an der Grenze zum Kitsch, drückt viel von seinem Wesen aus und vom Wesen seines künstlerischen Schaffens. In die bürgerliche Wiener Gesellschaft wird er, der vom Land kommt, trotz musikalischer Erfolge nicht aufgenommen. Seine Beziehung zu Frauen beschränkt sich auf das vergebliche Verehren junger schöner Frauen aus der Ferne, man könnte sagen Anhimmeln. Religion trägt seine Musik, die Musik sein Leben. Religion ist Zuflucht, und Musik ist Ersatz für die Erfüllung irdischen Liebens: Ersatzgeliebte. Stark ausgeprägte Sinnlichkeit wird gehemmt, unterdrückt, staut sich auf – und fließt, sublimiert,  in seine Musik.
Als hätte ihn gerade dieser Text optimistisch gestimmt, als würde er gerade bei diesem Text zur Ruhe kommen, so hat Anton Bruckner das Tantum ergo vertont – die beiden letzten Strophen von Pange lingua, die sich losgelöst, verselbständigt haben. Acht seiner 58 geistlichen Kompositionen hat er im Laufe seines Lebens diesem Text gewidmet, sechs davon sind hier zu hören. Ob a cappella oder mit Instrumenten, in welcher Tonart auch immer und unabhängig von seinem jeweiligen Lebensalter: Bei diesem Inhalt scheint der Komponist entspannt und ruhig voran zu schreiten. Was im Tantum ergo hat er eigentlich vertont? Das gesenkte Haupt, das große Sakrament, das Wunder der Wandlung? Den Übergang vom Alten zum Neuen Bund, den Lobpreis oder den Jubel? Er hat sich auf die Kernaussage konzentriert, die man zugleich als Motto seines Lebens betrachten kann: Praestet fides supplementum sensuum defectui. Möge der Glaube weiterhelfen, wo die Sinne versagen. Die Tantum-Ergo-Vertonungen symbolisieren das unbeirrbar ruhige Vorwärtsgehen in der Musik wie im Leben, getragen von tiefer Gläubigkeit und bedingungslosem Gottvertrauen.

 

 

1 Tantum ergo
Aus Pange lingua.
Thomas von Aquin1
nach Venantius Fortunatus 2

Tantum ergo sacramentum
veneremur cernui,
et antiquum documentum
novo cedat ritui;
praestet fides supplementum
sensuum defectui.

Genitori Genitoque
laus et jubilatio,
salus, honor, virtus quoque
sit et benedictio;
procedenti ab utroque
compar sit laudatio. Amen.

Solch ein großes Sakrament also
wollen wir gesenkten Hauptes verehren,
und das alte Bündnis
soll dem neuen Ritus weichen.
Möge der Glaube weiterhelfen,
wo die Sinne versagen.

Dem Vater und dem Sohne
Preis und Jubel!
Heil, Ehr, Ruhm und Lobpreis
sei ihnen gesagt.
Dem, der aus beiden hervorgeht,
sei gleiches Lob.

Fronleichnams-Hymnus/WAB3 41, Nr. 1: 4 Tantum ergo/Es-Dur/4-stimmiger Chor a cappella/1846, rev. 1888



2 Ecce sacerdos magnus
Buch Jesus Sirach (Ecclesiasticus) 44: 16, 27

Die Stimmung von Anton Bruckners Komposition scheint dem Text, wörtlich genommen, in seltsamer Weise nicht zu folgen. Wie so oft drückt die Musik etwas aus, das dem Text selbstverständlich innewohnt, in diesem selbst jedoch nicht ausgesprochen, sondern vorausgesetzt wird. Im Buch Jesus Sirach (ein Buch der Weisheitsliteratur, ursprünglich um 180 v. Chr. in Jerusalem entstanden), wird der erste Satz dieser Antiphon so fortgesetzt: …inventus est justus: et in tempore iracundae factus est reconciliatio. Non est inventus similis illi qui conservit legem excelsi. …er wurde als gerecht befunden: Und in der Zeit des Zornes ist er zur Versöhnung geworden. Kein Gleicher ist gefunden worden, der das Gesetz des Himmels bewahrt hat. Die Unerbittlichkeit der Gesetze Gottes und deren Einhalten durch seine Vertreter auf Erden, zornige Zeiten und die stets bedrohte: Versöhnung. Diese immerwährende irdische Zerreißprobe hat Anton Bruckner in seiner Komposition erfasst.

Ecce sacerdos magnus, qui in diebus suis placuit Deo.
Ideo jurejurando fecit illum Dominus crescere in plebem suam.
Benedictionem omnium gentium dedit illi
et testamentum suum confirmavit super caput ejus.

Gloria Patri, et Filio, et Spiritui Sancto:
Sicut erat in principio, et nunc, et semper,
et in sæcula sæculorum. Amen.

Seht den Hohepriester, der in seinen Tagen Gott gefiel:
der Herr hat einen Bund mit ihm geschlossen,
damit er hineinwache in seines Volkes Gemeinschaft.
Er gab ihm den Segen aller Völker,
und der Gnade Fülle legte er auf sein Haupt.

Ehre sei dem Vater und dem Sohn und dem Heiligen Geist,
wie es war im Anfang, jetzt und allezeit
und in Ewigkeit. Amen.

Antiphon/WAB 13/a-moll/8-stimmiger gemischter Chor, 3 Posaunen, Orgel/1885
Anlass: 100-jähriges Linzer Diözesan-Jubiläum 1885
Uraufführung: 21. November 1912, Vöcklabruck


3 Christus factus est
Paulus, Brief an die Philipper 2, 8-9

Gehorchen im Hinblick auf ein übergeordnetes Ziel, darum geht es in Paulus‘ Brief . Ist so ein Gehorchen möglich, selbst wenn es mit dem Leben bezahlt wird? Ja, wir haben es gehört, gelesen, allzu oft; es ist so selbst-verständlich geworden, dass wir es nicht mehr verstehen. Anton Bruckner aber – staunt uns etwas vor! Unendliches Staunen drückt der Beginn von Christus factus est aus, vermischt mit Dankbarkeit, dass Christus, obwohl Gott gleich, sich nicht zu gut war, ein Mensch wie du und ich zu werden. In schwer fallenden Linien wird spürbar, wie unmenschlich es doch ist, unerbittlich Gehorsam zu fordern, bis in den Tod. Auflehnung? Kaum. Gefasstheit eher, schließlich eine fast geflüsterte Hinnahme des Kreuzestodes. Erst im Nachhinein, als alles vorbei ist, setzt die Auflehnung gegen des Unfassbare ein, massiv und lang anhaltend: Dass Gott Christus erhebt – ist doch wohl das Mindeste! Die kollektive Fassungslosigkeit steigert sich in Wellen, bis die Grenze des Ausdrückbaren und Erträglichen erreicht ist und mündet in den Aufschrei: Größer als alle Namen! Dann kehrt allmählich Ruhe ein, schmerzhafte Ruhe bis zum Ende.

Christus factus est pro nobis obediens
usque ad mortem, mortem autem crucis.
Propter quod et Deus exaltavit illum et dedit
illi nomen, quod est super omne nomen.

Christus ist für uns gehorsam geworden
bis zum Tod am Kreuze.
Deshalb hat Gott ihn über alle erhoben
und ihm den Namen gegeben,
der größer ist als alle Namen.

Gründonnerstags-Graduale/WAB 11/Christus factus est III/Gradual/d-moll/4-stimmiger gemischter Chor a cappella/1884
Widmung: Pater Oddo Loidol4
Uraufführung: 9. November 1884, Wien

4 Tantum ergo
WAB 32/Pange lingua (Tantum ergo) D-Dur/4-stimmiger gemischter Chor a cappella/1843
Widmung: Für St. Florian5
Uraufführung: um 1843, St. Florian

5 Ave Maria
Lukas-Evangelium 1, 28b, 42

Der glühende Marienverehrer Bruckner hat das Gegrüßetseistdumaria dreimal vertont; es ist das wohl innigste christliche Gebet; immer dann gedacht, gemurmelt, mit fester Stimme gesprochen, wenn wir ein Anliegen in uns tragen, für das nur weibliche Fürsprache angemessen erscheint. Alle drei Ave Maria sind in F-Dur komponiert, in einer Tonart also, die seit Jahrhunderten Liebe und Zärtlichkeit ausdrückt. In Bruckners erstem Ave Maria kommt der Ursprung des Motetten-Textes, der sich aus zwei verschiedenen Teilen der Verkündigungsszene zusammensetzt, besonders schön zum Ausdruck. Vom Volk, also von uns allen, kommt ein erster Gruß, Ave Maria! wobei natürlich: die Frauen den Anfang machen. Dann singen die beiden Solistinnen gleichsam mit verteilten Rollen den Erzengel Gabriel und Elisabeth. Der Name Jesus wiederum wird voller Ehr-Furcht, vom Volk ausgesprochen, ebenso wie das abschließende Gebet: die menschlich-irdische Anrufung, die den Bibelworten hinzugefügt wurde.

Ave Maria, gratia plena, Dominus tecum;
benedicta tu in mulieribus,
et benedictus fructus ventris tui, Jesus.
Sancta Maria, Mater Dei,
ora pro nobis peccatoribus,
nunc et in hora mortis nostrae. Amen.

Gegrüßet seist du Maria, voll der Gnade, der Herr ist mit dir;
du bist gebenedeit unter den Frauen,
und gebenedeit ist die Frucht deines Leibes, Jesus.
Heilige Maria, Mutter Gottes,
bitte für uns Sünder,
jetzt und in der Stunde unseres Todes. Amen.

Motette/WAB 5/F-Dur/Ave Maria I/4-stimmiger gemischter Chor, Soli (Sopran, Alt), Orgel/1856
Widmung: Ignaz Traumihler6
Urauffühung: 7. Oktober 1856, St. Florian (Rosenkranzfest)


6 Tota pulchra es Maria
Buch Judith 15, 12
Hohes Lied der Liebe 4, 7

Die beiden Texte, die dieser Antiphon bruchstückhaft zugrunde gelegt wurden, besingen irdischen Mut und irdische Schönheit. Im Buch Judith ist von der Frau die Rede, die unbewaffnet ins feindliche Heereslager geht, um ihr Volk zu retten; im Hohen Lied der Liebe besingt ein Mann die Makellosigkeit eines weiblichen Körpers: Siehe, meine Freundin, du bist schön! Macula non est in te. Im kirchlichen Text wird die körperliche „macula“ kurzerhand zur „macula originalis“ vergeistigt, zur Erbschuld also. Außen wird innen. Und die letzten Anklänge an äußere Schönheit, in einem früheren Antiphon-Text noch erwähnt, sind aus diesem verbannt: Vestimentum tuum candidum quasi nix, et facies tua sicut sol. Dein Gewand ist weiß wie Schnee und dein Antlitz gleicht der Sonne. In Anton Bruckners Vertonung klingt Judiths Geschichte in der fast orientalisch anmutenden Tonart phrygisch an und in staunender Bewunderung weiblicher Tapferkeit – wenn auch an Stelle der Rettung von äußerer Gefahr die Rettung der Seele tritt. Von der ursprünglich erotisch-sinnlichen Stimmung des Hohen Liedes bleibt spürbar nur: das zärtliche Verehren des Weiblichen – sublimiert in Maria – nicht nur durch das Kollektiv, sondern auch: durch eine männliche Solostimme.

Tota pulchra es, Maria,
et macula originalis non est in te.
Tu gloria Jerusalem, tu laetitia Israel.
Tu honorificentia populi nostri.
Tu advocata peccatorum.
O Maria. Virgo prudentissima.
Mater clementissima. Ora pro nobis.
Intercede pro nobis ad Dominum Jesum Christum.

Vollkommen schön bist du, Maria,
und die Erbschuld ist nicht in dir.
Du Ehre Jerusalems, du Freude Israels,
Du Würdenträgerin unseres Volkes.
Du Fürsprecherin der Sünder.
Maria, klügste aller Jungfrauen.
Sanfmütigste Mutter. Bitte für uns.
Tritt für uns ein beim Herrn, Jesus Christus.

Motette/WAB 46/Antiphon/phrygisch/4-stimmiger gemischter Chor, Solo (Tenor), Orgel/1878
Anlass: 25-jähriges Jubiläum des Bischofs von Linz (Franz Josef Rüdigier)
Uraufführung: 4. Juni1878, Linz

7 Tantum ergo
WAB 41 Nr. 2/4 Tantum ergo/C-Dur/4-stimmiger gemischter Chor a cappella/1846 rev. 1888

8 Ave Maria

Die berühmte 7-stimmige Komposition beginnt mit einem dreistimmigen Gesang der Frauen. Die Stimme des Engels Gabriel, in drei geteilt, überbringt den Gruß des Himmels. Die Männer? Stimmen ein, wenn Elisabeth zitiert wird, verkörpern das Menschliche in der biblischen Verkündigungs-Szene, die mit Jesus! endet: zärtliche Anrufung erst, gesteigert zum verzweifelten Aufschrei. Jetzt erst hebt das kollektive Beten des Volkes an, dort, wo nicht mehr die Bibel zitiert wird. Schmerzhaft ziehendes Flehen steigert sich ins beinah Unerträgliche, löst sich auf in kindlich demütigem Bitten, lehnt sich auf, gegen den Tod, ganz kurz nur, um diesen am Ende ruhig und ohne Widerrede anzunehmen.

Motette/WAB 6/Ave Maria II/F-Dur/7-stimmiger Chor a cappella/1861
Uraufführung: 12. Mai 1861, Linz

9 Afferentur regi
Psalm 44, 15-16

Wieder verwendet Anton Bruckner F-Dur – und wieder geht es im Text ursprünglich um eine Liebesgeschichte, eine durchaus irdische. Der zugrunde liegende Psalm nämlich ist ein Liebeslied, ein Lied zur Hochzeit eines Königs. Vielleicht ist König Salomo gemeint, der sich mit der Prinzessin von Ägypten vermählt. Der Dichter jedenfalls lobpreist den König und fordert eine Königstochter auf, sich diesem König zu schenken, der so sehr nach ihr verlangt. Schön und prächtig geschmückt, begleitet von ihren Gespielinnen, zieht die Braut in den Palast des Königs ein, unter freudigem Jubel der Menge: Das ist die Szene. Ist Maria gemeint, die Braut Gottes, die in sein Reich eingeht? Anton Bruckner sieht dieses bewegte Bild  mit Freude – und für seine Begriffe beinahe unbeschwert.

Afferentur regi virgines post eam:
Proximae ejus afferentur tibi
in laetitia et exsultatione:
adducentur in templum regi Domino.

Man führt sie und die Jungfrauen,
die ihr nahe sind, zu dir. 
Unter Freude und Jubel werden sie
in den Palast des Königs geleitet.

Offertorium/WAB 1/F-Dur/4-stimmiger gemischter Chor, 3 Posaunen, Orgel ad lib./1861
Uraufführung: 13. Dezember 1861, St. Florian

10 Tantum ergo
WAB 41 Nr. 3/4 Tantum ergo/B-Dur/4-stimmiger gemischter Chor a cappella/1846, rev. 1888

11 Virga Jesse
Jesaja 11, 1-10

Wir würden von Anfang an freudige Klänge erwarten, bei diesem Text, der doch nur Schönes zu verkünden hat. Die Freude jedoch hebt sich Bruckner bis zum Ende auf, für das optimistische Alleluja im frohlockenden Dur. Davor – ein Heraustasten, in Moll, aus der Dunkelheit des Alten Testaments. Ganz allmählich erst entfaltet sich, bildlich und musikalisch, aus dem Stammvater Jesse der Stammbaum Jesu. Dass eine Jungfrau einen Menschen geboren hat, der zugleich Gott ist, hört sich fast an wie ein trotziger Sieg. Der Friede, obwohl wortwörtlich längst geschenkt, muss musikalisch noch erbeten, erfleht, erkämpft werden; in der Musik verwirklicht er sich erst dort, wo es Gott gelingt, das Tiefste und das Höchste zu verbinden, mit Hilfe von versöhnenden Sextsprüngen abwärts: in se – in sich selbst.

Virga Jesse floruit:
Virgo Deum et hominem genuit:
pacem Deus reddidit,
in se reconcilians ima summis.
Alleluja.

Jesses Reis hat sich entfaltet:
Die Jungfrau gebar Gott und Mensch.
Gott hat den Frieden wieder gegeben,
als er das Tiefste und Höchste in sich versöhnte.
Alleluja.

Graduale/WAB 52/e-moll/4-stimmiger gemischter Chora cappella/1885
Widmung: Ignaz Traumihler
Uraufführung: 8. Dezember 1885, Wien

12 Vexilla regis
Nach Venantius Fortunatus

Die letzte Kirchenkomposition, die Anton Bruckner geschaffen hat, etwa vier Jahre bevor er starb, beschäftigt sich mit dem Tod am Kreuz. Der Hymnus hat ursprünglich 7 Strophen. Nur 1, 6 und 7 werden in der heutigen Liturgie verwendet und sind von Anton Bruckner vertont. Von diesen wiederum sind zwei Versionen bekannt, eine bildhaft-drastische, in welcher vom Marterholz die Rede ist, auf welchem das Fleisch Christi aufgehängt worden ist – Venantius Fortunatus im O-Ton. Und dann die liturgisch-katholisch geglättete, vom Komponisten vertonte Fassung, in welcher das Unfassbare nur angedeutet, abstrahiert dargestellt wird. Die Komposition ist nur vordergründig entspannt. Phrygisch schräg durchtränkt Anton Bruckner die Hoffnung auf das ewige Leben mit leiser Ehrfurcht vor dem Tod, durch den es erst gewonnen werden kann; das schlichte Sichergeben in das Unergründliche mit Furcht vor eben diesem.

Vexilla regis prodeunt
fulget crucis mysterium
qua vita mortem perulit
et morte vitam protulit.

O Crux ave, spes unica
hoc passionis tempore
piis ad auge gratiam
reisque dele crimina.

Te fons salutis Trinitas
collaudet omnis spiritus:
Quibus crucis victoriam
largiris adde praemium. Amen.

Des Königs Banner wallt empor,
des Kreuzes Geheimnis leuchtet hervor,
durch welches das Leben den Tod erlitt
und durch den Tod das Leben erwarb.

Sei gegrüßt, o Kreuz, einzige Hoffnung,
in dieser Leidenszeit;
den Frommen vermehre deine Huld,
und den Angeklagten tilge die Vergehen

Dich, Quell des Heils, Dreifaltigkeit,
dich lobpreiset jeder Geist;
denen, die du durch des Kreuzes Sieg beschenkst,
füg deinen Lohn hinzu. Amen.

Kreuzes-Hymnus/Motette/WAB 51/phrygisch/4-stimmiger gemischter Chor a cappella/1892
Uraufführung: 31. März 1892, St. Florian

13 Tantum ergo
WAB 42/D-Dur/5-stimmiger gemischter Chor, Orgel/1846, rev. 1888

14 Os justi
Psalm 37, 30-31

Psalm 37 – Psalm des Vertrauens in die Gerechtigkeit Gottes. Unerschütterlich soll der Gerechte glauben, dass sich das Böse letzlich selber richtet, während das Gute den Lohn erhält, der ihm von Rechts wegen zusteht. Und wer es glaubt, wird: selig. Das ist nicht ironisch gemeint. Anton Bruckner lässt die Weisheit des Gerechten, der unbeirrbar seinen Weg geht, homophone Ruhe verströmen. Die Zunge hingegen, die Recht spricht, redet durcheinander, auseinander, ehe sie mit sich selbst ins Reine kommt und mit sich einig wird. Am Ende vertraut der Gerechte dann doch auf das Gesetz Gottes, das er ewig schon in seinem Herzen trägt. Und geht festen Schrittes weiter.

Os justi meditabitur sapientiam,
et lingua ejus loquetur judicium
lex Dei ejus in corde ipsius:
et non supplantabuntur gressus ejus.
Alleluia.
 
Der Mund des Gerechten bedenkt Weisheit
und seine Zunge redet Gerechtigkeit.
Das Gesetz seines Gottes trägt er im Herzen,
und seine Schritte wanken nicht.
Alleluja.

Graduale/WAB 30/lydisch/4-stimmiger gemischter Chora cappella/1879
Widmung: Ignaz Traumihler
Uraufführung: 28. August 1879, St. Florian

15 Asperges me
Psalm 51, 9, 3

Der 51. Psalm, dem das Text-Fragment Asperges me entnommen wurde, ist der Buß-Psalm. Buße verbinden wir mit Strafe; es ist etwas, das wir tun müssen, obwohl wir es nicht wollen, also eher etwas Schlechtes. Dabei kommt Buße ursprünglich von einem Wort, das Gutes heißt und bedeutet: Wieder-gut-machen. Jemand besprengt uns  mit einem buschigen Ysop, in geweihtes Wasser getaucht  – oder tauft uns, taucht uns ganz und gar in dieses Wasser und macht uns wieder gut. Alles Böse, das wir getan haben, oder aber durch die Erbschuld-Automatik auf uns geladen haben, wird abgewaschen. So einfach ist es, etwas wieder gut zu machen. Anton Bruckners erstes Asperges me (seine zweite geistliche Kompostition überhaupt)  schreitet ruhig weiter und weiter voran. Doch das eigentlich hoffnungsvolle Schreiten wird durch die Tonart er-schwert: aeolisch, also reines Moll. Anfangs rufen Menschen, vereinzelt, den Herrn an, sie reinzuwaschen. Vertrauensvolle Rufe eigentlich, doch: sie fallen. Sind sie etwa vergeblich? Im Miserere vereinigen sie sich zu einer einzigen Stimme, wie um sich Mut zu machen. Doch immer wieder sinkt der Mut. So war es immer schon, so wird es immer sein. 

Asperges me, Domine, hysoppo, et mundabor:
lavabis me, et super nivem dealbabor.
Miserere mei, Deus, secundum magnam misericordiam tuam.
Sicut erat in principio, et nunc et semper, et in saecula saeculorum. Amen.

Besprenge mich mit Ysop, o Herr, und ich werde rein:
wasche mich, und ich werde weißer als Schnee.
Erbarme dich meiner, o Gott, denn Du bist barmherzig.
Wie es war im Anfang, so auch jetzt und allezeit, in Ewigkeit. Amen.

WAB 3 Nr. 1/aeolisch/4-stimmiger Chor, Orgel/1843-45



16 Pange lingua
Thomas von Aquin
nach Venantius Fortunatus

Der Text ist eigentlich nur ein Tantum ergo mit zusätzlicher erster Strophe. Doch Anton Bruckner schafft im Pange lingua schon durch die archaische Tonart, phrygisch, eine vollkommen andere, mystische Grundstimmung – er vertont den Inhalt eben dieser ersten Strophe. Und so fließt die Musik vollkommen ruhig und gerade und zugleich in höchstem Maße schräg erschreckend. Wie das Blut, das Jesus Christus für uns vergossen hat.

Pange lingua gloriosi
corporis mysterium
sanguinisque pretiosi,
quem in mundi pretium
fructus ventris generosi
Rex effudit Gentium.

Tantum ergo sacramentum
veneremur cernui,
et antiquum documentum
Novo cedat ritui;
praestet fides supplementum
sensuum defectui.

Genitori Genitoque
laus et jubilatio,
salus, honor, virtus quoque
sit et benedictio;
procedenti ab utroque
compar sit laudatio. Amen.

Preise, Zunge, das Geheimnis
dieses Leibs voll Herrlichkeit
und des unschätzbaren Blutes,
das, zum Heil der Welt geweiht,
Jesus Christus hat vergossen,
Herr der Völker aller Zeit.

Solch ein großes Sakrament also
wollen wir gesenkten Hauptes verehren,
und das alte Bündnis
soll dem neuen Ritus weichen.
Möge der Glaube weiterhelfen,
wo die Sinne versagen.

Dem Vater und dem Sohne
Preis und Jubel!
Heil, Ehr, Ruhm und Lobpreis
sei ihnen gesagt.
Dem, der aus beiden hervorgeht,
sei gleiches Lob.

Fronleichnams-Hymnus/WAB 33/phrygisch/Pange lingua et Tantum ergo/4-stimmiger Chor a cappella/1868
Uraufführung: 1890, Steyr

17 Aequale

Das Aequale, abgeleitet von lateinisch „voces aequales – gleiche Stimmen“ ist ein kurzes Stück für drei gleich gewichtete Posaunen, zum Gebrauch bei Begräbnissen. In c-moll schreibt Anton Bruckner seine beiden Aequale, düstere Tonart der Trauer. Sind es die Stimmen des Jüngsten Gerichts? Oder klingt nicht auch schon der himmlische Chor der Engel durch? In manchen Dur-Rückungen und im letzten Dur-Akkord des zweiten Aequale.

WAB 114/c-moll/3 Posaunen/1847

18 Libera me
Aus den Exequien

Aus der modernen Liturgie ist dieser drastische Begräbnis-Text verschwunden. Der Angst und Schrecken verbreitende Gott ist nicht mehr zeitgemäß, Androhung von Strafe und Hölle ist verpönt, Hieronymus Bosch hat ausgedient. So betrachtet, ist Anton Bruckners Vertonung sehr modern: Der Komponist malt das Bild eines milden Jüngsten Gerichts. Der schmerzhaft-traurigen Grundtonart f-moll zum Trotz schildert er die Rettung vor dem ewigen Tod als sicher. Das gnädige Urteil des Richters, dessen Zorn sich in Grenzen hält, scheint gewiss. Und das Feuer? Wärmt es uns nicht mehr, als dass es uns vernichtet?

Libera me, Domine,
de morte aeterna
in die illa tremenda:
Quando coeli movendi sunt et terra
dum veneris judicare saeculum per ignem.

Tremens factus sum ego et timeo,
dum discussio venerit,
atque ventura ira.

Dies irae, dies illa,
calamitatis et miseriae,
dies magna et amara valde.
Dum veneris judicare saeculum per ignem.

Requiem aeternam dona eis, Domine,
et lux perpetua luceat eis.

Rette mich, Herr,
vor dem ewigen Tod
an jenem Tage des Schreckens,
wo Himmel und Erde wanken,
da du kommst, die Welt durch Feuer zu richten.

Zittern befällt mich und Angst:
denn die Rechenschaft naht
und der drohende Zorn.

Tag des Zornes, jener Tag
des Unheils und des Elends!
O Tag, so groß und so bitter.
Da du kommst, die Welt durch Feuer zu richten.

Herr, gib ihnen ewige Ruhe,
und das ewige Licht leuchte ihnen.

Begräbnis-Ritus/WAB 22/Libera me, Domine II/f-moll/5-stimmiger gemischter Chor, 3 Posaunen, Violoncello, Kontrabass, Orgel/1854
Widmung: Michael Arneth7

19 Aequale
WAB 149/c-moll/3 Posaunen/1847

20 Locus iste
1. Buch Mose, 28

Dieser Ort – vielleicht der geheimnisvollste und zugleich vielsagendste Text, den Anton Bruckner je vertont hat, ein Ausschnitt aus einer Geschichte der Genesis. Jakob, auf dem Weg von Beerscheba nach Haran, sieht im Traum die Himmelsleiter, auf welcher die Engel auf und ab steigen. Er erwacht und weiß: Hier, an diesem Ort mitten in der Wüste, ist Gott. Der Ort, an dem das Wunder uns begegnen kann, ist für jeden ein anderer und kann überall sein. Allgegenwärtig ist die unsichtbare göttliche Macht, die uns lenkt, dieser Ort ist also, scheinbar paradox, nicht ort-bar:  Jeder Ort auf dieser Welt kann von diesem un(ab)schätzbaren Geheimnis erfüllt sein. Innehalten, diskutieren, sich sträuben (reprehensio) – zwecklos. Wenn dir das Unfassbare widerfährt, sei dankbar und nimm es einfach an. Warum? Anton Bruckner führt uns am Ende nicht zufällig zum Ausgangspunkt zurück Anfang: Weil dieser Ort von Gott geschaffen ist. Geheimnisvoll wie der Text ist die Musik und bleibt deshalb: unbeschreiblich.

Locus iste a Deo factus est,
inaestimabile sacramentum,
irreprehensibilis est.

Dieser Ort ist von Gott geschaffen,
ein unschätzbares Geheimnis,
kein Fehl ist an ihm.

Graduale zum Kirchweih-Fest/WAB 23/C-Dur/4-stimmiger gemischter Chor a cappella/1869
Widmung: Pater Otto Loidol
Uraufführung: 29. Oktober 1869, Linz

21 Tantum ergo
WAB 41 Nr. 4: Vier Tantum ergo/As-Dur/4-stimmiger Chor a cappella/1846, rev. 1888



1 Thomas von Aquin (um 225-1274): Dominikaner-Mönch und einer der einflussreichsten Philosophen und Theologen der Geschichte, gehört zu den bedeutendsten katholischen Kirchenlehrern; in der römisch-katholischen Kirche als Heiliger verehrt.

2 Venantius Honorius Clemenianus Fortunatus (um 540-600): Dichter und Hagiograph der Merowingerzeit und Bischof von Poitiers.

3 Das Werkverzeichnis Anton Bruckner (WAB): 1977 von Renate Grasberger veröffentlichtes  systematisches Verzeichnis, das die einzelnen Werke in der jeweiligen Musik-Gattung alphabetisch ordnet.

4 Oddo Loidol (1858-1893): Benediktiner-Pater im Stift Kremsmünster, Organist, Freund von Anton Bruckner, vor seinem Eintritt ins Kloster auch sein Schüler in Wien.

5 St. Florian: Augustiner-Chorherren-Stift in Oberösterreich, in dem Anton Bruckner Sängerknabe war, später als Stiftsorganist wirkte und auf eigenen Wunsch unter der Orgel der Stiftsbasilika seine letzte Ruhestätte fand.

6 Ignaz Traumihler (1815 -1884): Kirchenkomponist (Messen und kleinere Kirchenkompositionen) und Augustiner-Chorherr des Stiftes St. Florian, ab 1852 Regens Chori, Förderer Bruckners.

7 Michael von Arneth (1771 -1854): Theologe und kunstsinniger Probst in St. Florian, nahm den dreizehnjährigen Anton Bruckner als Sängerknaben in das Stift auf und förderte entscheidend seine musikalische Laufbahn.

 

(© Sabine M. Gruber 2009)