Esterhazy Festival 2011 – Konzertprogramme
Festival Esterhazy
Ostern 2011
Vadim Repin, Violine
Radoslaw Szulz, Violine und Leitung
Kammerorchester des Bayerischen Rundfunks
Schloss Esterhazy, Freitag, 22.April 2011, 19.30 Uhr
Arvo Pärt (*1935):
Fratres für Violine, Streichorchester und Schlagzeug
Felix Mendelssohn Bartholdy (1809-1847):
Konzert für Violine und Streichorchester in d-moll
1. Allegro
2. Andante
3. Allegro
Franz Schubert (1797-1828):
Der Tod und das Mädchen Streichquartett Nr. 14 in d-Moll D 810 in einer Bearbeitung für Streichorchester von Gustav Mahler (1860-1911)
1. Allegro
2. Andante con moto
3. Scherzo - Allegro molto
4. Presto
Samstag, 23. April 2011, 19.30 Uhr
Antonio Vivaldi (1678-1741):
Konzert für vier Violinen in h-moll, Op. 3/Nr. 10, RV 580 aus: „L‘estro armonico“
1. Allegro
2. Largo
3. Allegro
L‘Inverno/Der Winter – Violinkonzert in f-moll, Op. 8/Nr. 4, RV 297 aus: „Il cimento dell'armonia e dell'inventione“
1. Allegro non molto
2. Largo
3. Allegro
Béla Bartók (1881-1945)
Divertimento für Streichorchester Sz 113
Sonntag, 24. April 2011, 19.30 Uhr
Wolfgang Amadeus Mozart (1756-1791)
Konzert für Violine und Streichorchester Nr. 5 in A-Dur, KV 219
1. Allegro aperto
2. Adagio
3. Rondeau: Tempo di Menuetto
Adagio für Violine und Streichorchester in E-Dur, KV 261
Rondo für Violine und Streichorchester in B-Dur, KV 269
Ein musikalischer Spaß für 2 Violinen, Viola, Kontrabass und 2 Hörner in F-Dur, KV 522
1. Allegro
2. Menuetto (Maestoso) - Trio
3. Adagio cantabile
4. Presto
Vadim Repin ist ein Magier des Geigenklangs, den man natürlich beschreiben könnte, wie man berühmte Musiker normalerweise beschreibt: Man zählt die Preise und Auszeichnungen auf, die er seit frühester Jugend erhalten hat; die namhaften Musiker und Klangkörper, mit welchen er auftritt; die klangvollen Orte, an denen er spielt; die schwierigen Werke, die er im Repertoire hat. Doch was würde das schon über ihn aussagen? Außer, dass er wirklich (wirklich!) berühmt ist.
1971 im russischen Novosibirsk geboren, seit zwanzig Jahren im Westen zu Hause, feiert Vadim Repin am 31. August erst seinen vierzigsten Geburtstag; er ist auf der ganzen Welt unterwegs, liebt große Städte (am meisten: Paris!) und interessiert sich für den jeweils angesagtesten technischen Schnickschnack. Und doch hat er etwas Altmodisches an sich. Was modernes Kunstmarketing von einem Künstler heutzutage erwartet, ist er jedenfalls nicht: cool. Sämtliche Versuche, ihn gestylt, distanziert und leicht abgehoben zu fotografieren, müssen fehlschlagen. Inszenierung liegt ihm fern. Sein Geigenspiel ist optisch vollkommen unspektakulär. Alle Energie fließt in das Instrument. Seine vollkommene Hingabe ist es, die ihn zu einem so herausragenden Künstler macht. So vollkommen gibt er sich dem Spiel auf seiner Geige hin, dass er mit dieser verschmilzt, bis er in ihr: verschwindet. Seine Geige wurde 1736 von Guarneri del Gesù gebaut. Vadim Repin liebt sie mehr als die Stradivaris, auf denen er zuvor gespielt hat. „Sie passt besser zu mir. Sie ist geerdet, menschlich, nicht so perfekt, sie lässt mir als Geiger Raum, mich persönlich zu entfalten, weil sie eine riesige Palette an Klangfarben hat. Sie ist meine Hand und meine Stimme zugleich.“ Schwer zu sagen, wer von den beiden was bewirkt. Gemeinsam mit seiner Geige jedenfalls bringt Vadim Repin Märchenhaftes hervor. Behutsam, nie forciert, entspinnt sich sein Ton, endlos bisweilen, als könnte er niemals abreißen; lebendig und warm, farbig, zart und schlank und von einer Reinheit, wie sie selten zu hören ist. Perfekt eigentlich. Doch die Perfektion ist ebenso wenig sein Ziel wie das Berühmtsein. Beides – nur eine flüchtige Nebenerscheinung seiner totalen Hingabe an die Musik.
Das Kammerorchester des Bayrischen Rundfunks,
ein Ensemble aufrechter Musiker, denn sie spielen im Stehen – ein höchst ungewohnter Anblick, für moderne Zuhörer. Allzu vertraut sind uns Musiker, die gefälligst sitzen, wenn sie im Orchester spielen. In der Barockzeit ist die aufrecht stehende übrigens eine durchaus übliche Spielhaltung.
Musiker, die nicht in einer Masse anonym verschwinden, sondern als Individuen virtuos agieren: Jeder spielt solistisch. Mit dieser Haltung formiert sich 1999 das Kammerorchester des Bayrischen Rundfunks aus den Reihen des gleichnamigen Symphonieorchesters. Das Musizieren im Stehen ist jedoch nicht nicht eine rein historische oder programmatische Haltung, es nimmt auch hörbar Einfluss auf die Art des Spielens, auf die Körperspannung der einzelnen Musiker und damit auf den Charakter des Gesamtklangs. Der Repertoire-Schwerpunkt liegt auf Kompositionen für Streichorchester. Ursprünglich handelt es sich nämlich überhaupt um ein reines Streicherensemble, das seine Existenz der Initiative zweier Streicher des Symphonieorchesters verdankt: Konzertmeister Radoslaw Szulc und Solokontrabassist Karl Wagner. Die Besetzungsgröße ist flexibel und variiert, je nach den Erfordernissen der ausgewählten Musikstücke. Für das eine oder andere Solokonzert oder eine kleinere Symphonie dürfen also zur Stammbesetzung durchaus Bläsersolisten oder Schlagzeuger des Symphonieorchesters hinzutreten (stehend, versteht sich, nur die Celli bleiben in jedem Fall sitzen).
Gemäß der historischen Tradition kommt das Kammerorchester im allgemeinen ohne Dirigenten aus. Radoslaw Szulc präsentiert sich als ein „Erster unter Gleichen“ und leitet als solcher das mittlerweile weltbekannte Ensemble (bei Top-Festivals, in internationalen Konzertsälen, mit hervorragenden Solisten) von seiner ersten Geige aus.
Radoslaw Szulc, ein Erster unter Gleichen,
obwohl: Ein bisschen gleicher ist der Primus inter Pares, Initiator und künstlerische Leiter des Kammerorchester des Bayrischen Rundfunks, ja doch. In Polen geboren, wird Radoslaw Szulc schon früh von seiner Mutter unterrichtet, der Geigerin Halszka Süss, die ihrerseits schon aus einer Geigerfamilie stammt. Als er Mendelssohns Violinkonzert erstmals öffentlich spielt, ist er erst zehn Jahre als. Später studiert er bei Irena Dubinska in Warschau, bei Jens Ellermann in Hannover, bei Yfrah Neaman an der Londoner Guildhall School, bei Herman Krebbers in Amsterdam und gewinnt zahlreiche Preise bei internationalen Wettbewerben. Als Solist reist er mit renommierten Orchestern durch die ganze Welt, tritt im Rundfunk und Fernsehen auf und spielt CDs ein.
1998 wird er Erster Konzertmeister des Symphonieorchesters des Bayerischen Rundfunks und gründet ein Jahr später das Kammerorchester, das er seither höchst erfolgreich leitet – und sehr kreativ. Was sich unter anderem darin zeigt, wie stimmig er die Musikstücke für die Konzerte seines Ensembles zusammenstellt, fast möchte man sagen: komponiert.
Karfreitag
Über das Wesen von Tonarten,
wobei sich die Frage stellt: Hat überhaupt jede Tonart ihr eigenes Wesen? Ob ein Stück in Dur und Moll steht, macht einen Riesenunterschied, das würde wohl niemand bestreiten. Aber verändert sich der Charakter eines Musikstücks auch, je nach dem, in welcher Dur- oder Moll-Tonart es komponiert wird? „Daß nun ein jeder Thon etwas sonderliches an sich habe / und sie in dem EFFECT einer von dem andern sehr unterschieden sind / ist wol einmahl gewiß / wenn man Zeit / Umstände und Personen dabey wol CONSIDERIret; was aber ein jeder Thon eigentlich vor AFFECTEN, wie und wenn er selbige rege mache / darüber gibt es viel CONTRADICIrens.“ Das schreibt zum Beispiel Johann Mattheson in seiner Abhandlung Der Vollkommene Kapellmeister (Hamburg 1739). Er ist einer von etlichen Komponisten und Musikwissenschaftern, die sich bis ins 19. Jahrhundert darüber ihre Gedanken machen und versuchen, das Wesensmäßige jeder Tonart zu er-hören und in Worte zu fassen.
Ein ganzer Konzertabend in d-moll-Grundstimmung – wie fühlt sich das an? Charles Masson (1698) hätte gesagt: „Aus unerfindlichen Gründen ist die Schwermut mit Freude durchmischt“.
Fratres für Violine, Streichorchester und Schlagzeug (1992) von Arvo Pärt (*1935)
Warum das Stück wohl so heißt? Die Antwort überlässt der tief spirituell verankerte estnische Komponist unserer Phantasie. Vielleicht sind die Brüder einer Ordensgemeinschaft gemeint, die sich zum abendlichen Karfreitagsgebet versammeln? Arvo Pärt selbst erinnert an einen jener Fratres, die vielleicht von den Glocken* herbeigerufen werden, die keine wirklichen Glocken sind, sondern nur an Glocken erinnern, dann und wann von Klanghölzern angeschlagen und von gezupften Saiten der Sologeige, in das tiefe A der Kontrabässe, das allem dröhnend zugrunde liegt. Die echten Glocken können ja nicht läuten, die sind nach Rom geflogen, wie jedes Jahr. Vollkommene Harmonie herrscht im klangvirtuellen Kloster keineswegs. Denn der instrumentale Gesang bewegt sich in zwei Tonarten gleichzeitig, schmerzhaft schön bitonal, in d-moll und a-moll: Die hohen und tiefen Stimmen kommen aus der d-Moll Tonleiter, die mittleren aus a-Moll. Die kurzen Sequenzen, aus wenigen Tönen bestehend, scheinbar immer gleich, wandeln und verwandeln sich im Oktavraum zwischen A und A, aufwärts und abwärts und seitwärts; sie verwandeln sich ähnlich, eben niemals gleich und bleiben unvorhersehbar. Den, der sich darauf einlässt, versenken Fratres in eine meditative, traurig hoffnungsfrohe Trance.
* Tintinnabuli nennt Arvo Pärt diese Art zu komponieren, die er selbst erfunden hat, aus dem Lateinischen: Tintinnabulum, die Glocke. Fratres hat er ursprünglich 1977 für Kammerorchester geschrieben und seither in insgesamt acht verschiedenen Instrumentalfassungen variiert.
Konzert für Violine und Streichorchester in d-moll (1822) von Felix Mendelssohn Bartholdy (1809-1847).
Als würden die Mönche aus Arvo Pärts Kloster sich nun endlich sammeln, auf eine Tonart einigen und ein wenig Hoffnung schöpfen: so schließt das Allegro dieses Konzerts für Violine und Streichorchester an, staunenswert nahtlos, in d-moll. Felix, der Glückliche, ist erst dreizehn Jahre alt, als er es komponiert, und doch strahlt das Werk erwachsene Sicherheit aus: die Sicherheit eines jungen Menschen, der darauf vertrauen kann, dass alles, was er schreibt, in seiner Umgebung mit Wohlwollen aufgenommen und in jedem Fall aufgeführt wird – wohl bei einer der vielen Sonntagsmatineen im Hause Mendelssohn. Felix widmet das d-moll-Konzert seinem Geigenlehrer Eduard Rietz, der es vermutlich auch erstmals bei einer solchen Matinee aufführt. Gedruckt wird es nicht und zu Lebzeiten des Komponisten auch nie wieder gespielt. Felix hält anscheinend nicht besonders viel davon und schickt das Manuskript seinem fast gleichaltrigen Freund, dem Geiger Friedrich David (für ihn wird er 1844 das berühmte Violinkonzert in e-moll komponieren). Und dann - verschwindet das Manuskript. Erst 130 Jahre nach seiner Entstehung wird das d-moll-Konzert wieder entdeckt und aufgeführt, im Februar 1952 in der New Yorker Carnegie Hall, von keinem geringeren als Yehudi Menuhin. Der berühmte Geiger kauft die Rechte von Mendelssohns Nachkommen und lässt das Werk, das keine Opuszahl trägt, erstmals verlegen.
Der dreizehnjährige Felix beherrscht auf unerklärliche Weise die Form, als hätte er nie etwas anderes gemacht als Violinkonzerte komponieren. Er reiht nicht Sätze aneinander, er komponiert das Konzert souverän durch, mit genialen Übergängen, und das scheinbar über die Grenzen des Werks hinaus. Denn schon der Einsatz zum Allegro scheint an etwas anzuschließen, etwas fortzusetzen. Als hätte der Komponist draußen vor der Tür gewartet, sich schon allerhand gedacht und wollte uns dieses jetzt unbedingt mitteilen. Das Sprechende, das für seine Musik so charakteristisch bleiben wird, prägt auch schon dieses Werk. Vielleicht will er uns ja sagen, was er sich so zu Fratres gedacht hat, zum Beispiel. Changieren, ja, aber doch bitte nicht gleichzeitig, sondern hintereinander, oder zumindest ineinander! Mendelssohn verflicht d-moll mit D-Dur. Setzt sich die Hoffnung durch? Es scheint so. Fortsetzung folgt…
Der Tod und das Mädchen (1824) Streichquartett Nr. 14 in d-Moll D 810 von Franz Schubert (1797-1828) nach seiner gleichnamigen Vertonung (1817) des gleichnamigen Gedichts (1775) von Matthias Claudius (1740-1815) in einer Bearbeitung für Streichorchester (1894)* von Gustav Mahler (1860-1911)
Nach der Pause, oder: Zwei Jahre später, 1824. Schuberts Streichquartett beginnt mit exakt dem Akkord in d-moll, mit dem Mendelssohns Violinkonzert endet. Und dann: unerbittlich abwärts führende Triolen einer kleinen Terz, die im ganzen ersten Satz allgegenwärtig bleiben, schicksalshaft; selbst in vorübergehenden Dur-Passagen, in denen leise Hoffnung durchschimmert. Das zweite Thema, in Dur beginnend, ist von einer schmerzhaft gespannten, nur scheinbar heiteren Stimmung. Und im letzten Teil klingt, in gemäßigtem Tempo, schon der ungestüm jagende Rhythmus des letzten Satzes an. Am Ende: wieder die Abwärtstriolen, leise, resignierend.
Der zweite Satz, komponiert in der Todestonart g-moll, bringt seltsamerweise endlich ein wenig Trost. Schubert verarbeitet hier das titelgebende Lied, sieben Jahre früher entstanden: ein Minidrama, ein kurzes Zwiegespräch. Ein junges Mädchen, vom Sterben bedroht, spricht mit dem Tod, der es (tröstlich schmeichelnd) von den Vorteilen des Totseins überzeugen will.
Der Tod und das Mädchen
Matthias Claudius(1775)
Das Mädchen:
Vorüber! Ach vorüber!
Geh, wilder Knochenmann!
Ich bin noch jung, geh Lieber!
Und rühre mich nicht an.
Der Tod:
Gib deine Hand, du schön und zart Gebild!
Bin Freund und komme nicht zu strafen.
Sei gutes Muts! ich bin nicht wild,
Sollst sanft in meinen Armen schlafen!
Im Thema des zweiten Streichquartett-Satzes verwendet Schubert aus dem bekannten Lied nur das Motiv des Todes; die Zwiesprache mit dem Mädchen, also mit dem Leben, entspinnt sich in den fünf Variationen. Die stetigen Aufwärtsbewegungen in der ersten Variation wirken, als ob das Mädchen fragen würde; die durchgängigen Achtelbewegungen in der zweiten lassen die innere Unruhe des Mädchens wachsen, die Celli versuchen sie zu besänftigen; durch die dritte Variation: reitet der Tod; in der vierten schwebt das Mädchen noch einmal sehnsüchtig durchs Leben, im Traum; in der fünften kehrt die Unruhe zurück, die sich steigert, verdichtet, sich abzulenken versucht, herzklopfend nachlässt und schließlich ruhig in helles Licht führt.
Das nachfolgende Scherzo steht in d-moll und ist zunächst überhaupt nicht lustig: gezügelte Fröhlichkeit herrscht hier, mit zusammengebissenen Zähnen. Das Trio hingegen ist das einzige wirklich Heitere und Unbeschwerte in diesem Streichquartett über den Tod und das Leben. Das Scherzo endet skeptisch und geht übergangslos in den letzten Satz über: die wilde Jagd. Ein atemloser Totentanz? Reitet der Tod mit dem Mädchen im Arm davon? Wie der Erlkönig mit dem Knaben? Das Ende mündet in den Anfangsakkord des ersten Satzes. Das Spiel des Lebens und des Todes kann von neuem beginnen.
* Für das Streichorchester-Arrangement von Mahler gibt es nur eine Quelle – seine Schubert-Taschenpartitur mit zahllosen Bleistifteintragungen, aus denen sich die Orchesterfassung rekonstruieren lässt. Belegt ist eine Aufführung des zweiten Satzes in Hamburg am 19. November 1894. Die erste Gesamtaufführung fand genau 100 Jahre später statt.
Karsamstag
Über den Inhalt von Musik –
streiten sich Musik-Experten seit Jahrhunderten: Ob denn Musik sogenannte außermusikalische Inhalte ausdrücken kann oder darf. Joseph Haydn zum Beispiel wird für seine „Musikmalereien“ in der Schöpfung und den Jahreszeiten von seinen Kritikern arg gescholten und noch Anton Bruckner löscht seine Gedanken und Empfindungen aus den Partituren, um ja nicht in Verruf zu geraten „nur“ Programm-Musik zu komponieren, Musik zweiter Klasse gewissermaßen. Ich behaupte, dass Musik „außermusikalische“ Inhalte weder enthalten kann noch darf, sondern: muss. Wenn nämlich Musik – wie alle anderen Kunstformen auch - nicht dazu dienen sollte, die ganze Vielfalt des menschlichen Lebens auszudrücken, was wäre dann der Inhalt von Musik? Und was wäre ihr Sinn. Die außermusikalische Bedeutung ist, sage ich, allgegenwärtig. Eindeutig jedoch ist sie nie, auch dort, wo es täuschend so aussieht. Bei Vokalmusik zum Beispiel scheint der vertonte Text die Musik mit eindeutiger Bedeutung zu erfüllen. Doch würden wir den Text eines Schubert-Liedes auslöschen – könnten wir ihn denn anhand der Musik rekonstruieren? Niemals. Der Text gibt nur Anhaltspunkte. Könnten wir den „leichten flockigen Schnee“ in Haydns Schöpfung ohne die gleichlautenden Worte als solchen identifizieren? Wohl kaum. Antonio Vivaldi, in den berühmten „Sonetten“ zu seinen „Vier Jahreszeiten“, gibt sehr konkrete Anhaltspunkte zur Bedeutung und hilft damit unserer Phantasie auf die Sprünge. Vielleicht eine Anregung, unsere persönliche Vorstellungskraft auch dort spielen zu lassen, wo der Komponist Gedanken, Gefühle, Empfindungen nicht in Worte gefasst hat? Sondern nur in Musik.
Konzert für vier Violinen in h-moll, Op. 3/Nr. 10, RV* 580 (1711) aus: „L‘estro armonico (etwa: Die musikalische Eingebung in Harmonie mit der Harmonielehre)“ von Antonio Vivaldi (1678-1741)
Antonio Vivaldi ist ein Meister auf dem Instrument, das schon sein Vater berufsmäßig gespielt hat. Antonio kann ja sehr früh und sehr gut Cello, Viola und Cembalo spielen, doch sein Instrument ist und bleibt: die Geige. Mit ihr drückt er seine Gefühle und Empfindungen am besten und liebsten aus, als Musiker ebenso wie als Komponist. Obwohl: Von Beruf ist Antonio Vivaldi ursprünglich gar nicht Musiker, sondern Priester, denn sein Vater will ihm den wenig einträglichen Beruf des Musikers ersparen und lässt ihm eine theologische Ausbildung angedeihen. In seiner Heimatstadt Venedig wird Antonio als „Il Prete Rosso“ bekannt, seiner leuchtend roten Haarfarbe wegen. Den Priesterberuf hängt er bald an den Nagel, nützt aber seine kirchlichen Verbindungen. Zum Beispiel unterrichtet er Geige an einem christlichen Waisenhaus für Mädchen, leitet dortselbst ein Mädchenorchester und komponiert die meisten seiner Violinkonzerte und Sonaten: für Frauen! Unter anderem jene Sammlung von 12 Violinkonzerten mit dem Titel L‘estro armonico“, in welcher das berühmte Konzert in h-moll für vier Violinen als zehntes Werk anno 1711 erscheint. Über die Bedeutung der Tonart h-moll schreibt Johann Mattheson übrigens anno 1713: „…diese Thon ist BIZARRE, unlustig und MELANCHOLIsch; deswegen er auch selten zum Vorschein kommet / und mag solches vielleicht die Ursache seyn / warum ihn die Alten aus ihren Clöstern und Zellen so gar verbannet haben / daß sie sich auch seiner nicht einmahl erinnern mögen.“
* RV ist die Abkürzung für Ryom-Verzeichnis. Der dänische Musikwissenschafter Peter Ryom hat Vivaldis Werke nicht chronologisch geordnet, sondern: nach den Musik-Gattungen, darin nach den Besetzungen und hier wieder nach den Tonarten.
Johann Scebastian Bach von Vivaldis h-moll-Konzert RV 580 so fasziniert, dass er es bearbeitete. Seine berühmte Fassung für 4 Cembali steht in a-moll.
L‘Inverno/Der Winter – Violinkonzert in f-moll, Op. 8/Nr. 4, RV 297 (1725) aus: „Il cimento dell'armonia e dell'inventione (etwa: Der gewagte Versuch, die Harmonielehre und die Erfindungsgabe in Einklang zu bringen) von Antonio Vivaldi (1678-1741)
Vor Kälte klappernde Zähne, tropfender Regen, stampfende Füße, berstendes Eis, tobende Winde - all das komponiert Antonio in der vierten seiner „Vier Jahreszeiten“. Ganz eindeutig komponiert er das! Schreibt er es doch direkt in die Noten: Je 14 Zeilen verteilt er in jeder „Jahreszeit“ über die Partitur, jeweils genau an der passenden Stelle.
Der Winter
(I.) Erstarrend erzittern im schimmerndem Schnee,
und erbarmungslos schrecklichen Wind;
laufen und immerfort die Füße aufstampfen
mit den Zähnen klappern in bitterster Kälte.
(II.) Am Kaminfeuer ruhig zufriedene Tage verbringen,
indes draußen der Regen alle durchweicht.
Übers Eis gleiten, langsamen Schrittes,
aus Furcht vor dem Hinfallen vorsichtig laufen.
(III.) Weit ausschreiten, rutschen, zu Boden fallen.
Von neuem mit kräftigem Schwung übers Eis gleiten,
bis es birst und weit auseinander klafft.
Fühlen, wie durch verschlossene Türen entweichen:
Schirokko, Boreas und andere tobende Winde.
(So ist der Winter, doch welche Freude bringt er.)
Ob Vivaldi die Sonette während des Komponierens schreibt oder vorher oder nachher, wer weiß das schon. Es ist auch weniger wichtig als die Frage: Legt er die Bedeutung der Musik damit tatsächlich eindeutig fest? Die Regentropfen im zweiten Satz zum Beispiel – würden wir sie auch ohne Text als solche hören? Vielleicht. Vielleicht auch nicht. Die Partitur enthält an dieser Stelle nämlich nicht Regentropfen, sondern nur eine (zugegeben sehr gute) Möglichkeit für Regentropfen. Diese Möglichkeit kann von den Musikern in Musik umgesetzt werden – oder eben nicht. Im Grunde gibt Vivaldi in seinen Sonette technische Anweisungen in poetischen Bildern. Damit pflanzt er den Musikern zum Beispiel die Vorstellung von Regentropfen ein. Kämen die Geiger sonst auf die Idee, Pizzicatonoten zu so etwas wie Tropfen zu formen? Nicht unbedingt, und dann könnten wir sie auch nicht eindeutig hören. Schneller und lauter gespielt würden die Regentropfen womöglich zu Hufgeklapper, langsamer und leiser zu flockigem Schnee. In der Komposition festgehalten ist nur eine grundsätzliche Bedeutung: eine besondere Art der Körperempfindung, der inneren Bewegung, die beim Zuhören ausgelöst wird. Das Physische ist dem Komponisten offenbar sehr wichtig. Vivaldi scheint ein Mensch zu sein, der besonders intensiv physisch empfindet und zur Natur und zu den Naturgewalten eine besondere Beziehung hat. Vielleicht, weil er während eines Erdbebens geboren wird und notgetauft werden muss?
Über die Bedeutung der Tonart (f-moll), in der Vivaldi seinen „Winter“ komponiert, schreibt übrigens Johann Mattheson (Der vollkommene Kapellmeister, 1739) folgendes: „…scheinet eine gelinde und gelassene / wiewol dabey tieffe und schwere / mit etwas Verzweiflung vergesellschaffte / tödliche Hertzens=Angst vorzustellen und ist über die massen beweglich. Er drücket eine schwartze hülflose MELANCHOLIE schön aus / und will dem Zuhörer bisweilen ein Grauen oder einen Schauder verursachen.“
Divertimento für Streichorchester Sz* 113 (1939), von Béla Bartók (1881-1945)
Die Zeit, in der Béla Bartók sein Divertimento schreibt, ist alles andere als friedlich. Der Ausbruch des Zweiten Weltkriegs steht unmittelbar bevor, und der Komponist ist dabei, seine Zelte in Europa abzubrechen, um nach Amerika auszuwandern. Den Sommer 1939 verbringt er in der Schweiz, bei seinem Freund und Förderer Paul Sacher, Gründer, Dirigent und Geldgeber des Basler Kammerorchesters. Für Sacher soll Bartok sein drittes Auftragswerk schreiben, und zwar „im klassischen Stil“. Noch in der Schweiz komponiert er sein „Divertimento“, von 2. bis 17. August, in nur 15 Tagen.
Klassich anmutend ist zunächst die Form. Das Werk ist in drei Sätze gegliedert, wobei dem Streichorchester immer wieder solistische Streichergruppen gegenüber gestellt werden - ähnlich wie in einem barocken Concerto Grosso. Klassisch mutet auch der eine oder andere kompositorische Kunstgriff an: Kanon, Fuge, Umkehrung… Vor allem aber ist Bartok zu einer Art klassischer Tonalität zurückgekehrt. Nach Jahrzehnten kompromissloser Atonalität stellt sich wieder ein tonales Grundgefühl ein. Der erste Satz steht, bei allen schrägen Abweichungen, in einer klaren F-Dur-Stimmung - leicht, anmutig, tänzerisch und melodiös, mit Anklängen an Sergeij Prokofiews „Klassische Symphonie“. Dann der zweite Satz. Düster bedrohlicher tiefer Klangteppich, scharfe dissonante Einwürfe. Ein böser Traum? Der dritte Satz schreckt mit einer schrägen Einleitung aus dem Alptraum hoch, ehe die positive Grundstimmung des ersten Satzes eine Fortsetzung finden kann, etwas schneller, vielleicht noch verspielter, tänzerischer, mit rhythmischen und melodischen Elementen aus der Volksmusik (die Bartók leidenschaftlich erforscht) und in einer Art F-Dur-Tonalität. Charles Masson sagt zweieinhalb Jahrhunderte früher über F-Dur: „Natürliche Fröhlichkeit, vermischt mit Ernsthaftigkeit. Bartok liefert uns zu seinem „Divertimento“ keinen Text-Schlüssel. Sehnsucht nach Frieden, Angst vor dem drohender Krieg, Hin- und Hergerissensein zwischen Bleiben und Fliehen, Erinnerungen an die Jugend, die Heimat, die er bald für immer verlassen wird?
* Sz ist die Abkürzung für Szöllösy-Verzeichnis, benannt nach dem ungarischen Komponisten und Musikwissenschafter Andras Szöllösy (1921-2007)
Ostersonntag
Über Humor in der Musik –
lässt sich streiten. Denn wie kommt Humor überhaupt in die Musik? Durch die Noten, wie sonst. Aber: Ist Humor so sehr an seine Zeit gebunden, dass er in einer anderen nicht mehr nachvollzogen werden kann? Naja. Bedeutet das womöglich, wir müssen in einer bestimmten Weise gebildet sein, um eine bestimmte Art von Humor zu verstehen? Sagen wir: Sich ein bisschen mit dem auseinandersetzen, was ein Komponist da eigentlich auf die Schaufel nimmt, schadet nicht und vermehrt den Spaß an der Sache.
Das Wesen von Humor ist jedenfalls, dass ihm stets Ernst als Gegenspieler innewohnt, sonst kann er gar nicht entstehen. Und Humorvolles, ohne Ernsthaftigkeit vorgetragen, ist auf jeden Fall: witzlos. Hoffen wir also, dass die Musiker den Musikalischen Spaß wirklich ernst nehmen. Zuvor jedoch – einfach nur Mozart, Inbegriff der E-Musik.
Konzert für Violine und Streichorchester Nr. 5 in A-Dur, KV 219, von Wolfgang Amadeus Mozart (1756-1791)
„Den ersten Geigenunterricht erhält er von seinem Vater, einem der berühmtesten Geigenpädagogen Europas, der im Jahr seiner Geburt sogar eine berühmte Violinschule herausgibt …“ So könnte die Biographie eines weltberühmten Violinvirtuosen beginnen (bevor die Aufzählung von berühmten Preisen, Partnern, Orten und Werken folgt). Genau das wäre Leopold Mozarts Traum und Streben: aus seinem Sohn Wolfgang den weltberühmtesten Geiger zu machen. Nur ist sein Sohn gewissermaüen missraten, weil seinem Wesen nach: kein Geiger. Daran ändert auch die Tatsache nichts, dass er die Geige (nachdem er, wie es sich gehört, auf dem Klavier die Grundbegriffe der Musik erlernt hat) in kürzester Zeit wunderkindartig beherrscht. Auch nicht die Berufung nach Salzburg anno 1769 durch den Fürsterzbischof. Mit nur dreizehn Jahre wird Wolfgang Amadeus der jüngste Konzertmeister überhaupt. Die Geige ist fortan sein Dienstinstrument, aber auch nicht mehr. Für dieses schreibt er 1775 vier von insgesamt fünf Konzerten (Nr.1 ist 1773 entstanden). Spät erst, sehr spät setzt Wolfgang Amadeus sich gegen seinen Vater durch, am 8. April 1781, enfin!
Mon très cher Père! Heute hatten wir - denn ich schreibe um 11 uhr Nachts - accademie. Da wurden 3 stücke von mir gemacht. Versteht sich, Neue; - Ein Rondeau zu einen Concert für Brunetti - eine Sonata mit accompagnement einer Violin, für mich. - Welche ich gestern Nachts von 11 uhr bis 12 Componirt habe - aber, damit ich fertig geworden bin, nur die accompagnementstimm für Brunetti geschrieben habe, ich aber meine Parthie im kopf behalten habe - und dann, ein Rondeau für Ceccarelli. Liebster Vatter, - wenn sie nicht wären: so schwöre ich ihnen bey meiner ehre das ich keinen augenblick versäumen würde, sondern gleich meine dienste quittirte. Ich versichere sie, daß es mir oft schwer genug fällt, daß ich mein glück so auf die seite stellen soll. - Ich bin noch jung, wie sie sagen, das ist wahr, aber wenn man seine junge jahre so in einen Bettel ort in Unthätigkeit verschlänzt, ist es auch trauerig genug, und auch - Verlust. - Darüber bitte ich mir ihren vätterlichen und wohlmeinenden Rath aus - aber bald - denn ich muß mich erklären. Gehorsamster Wolfgang Amadé Mozart
Der Unterzeichnete ist nicht gehorsamst. Er quittiert den Dienst unverzüglich, ohne die väterliche Antwort abzuwarten. Der Fürsterzbischof goutiert das noch weniger. Kammerherr Graf Arco befördert den Ungehorsamen mit einem Fußtritt aus der Residenz - in eine künstlerische Freiheit ohne festes Einkommen. Die Geige rührt Wolfgang Amadeus nicht mehr an. Wenn überhaupt ein Streichinstrument, dann spielt er von nun an: Bratsche.
Ein anderer hätte für ein wenig geliebtes Dienst-Instrument vielleicht so eine Art Dienst-Musik komponiert. Nicht so Wolfgang Amadé. Was immer er macht – er macht es ganz. Das Violinkonzert in A-Dur ist ein kunstvolles Spiel mit Überraschungen. Zum Beispiel gleich im ersten Satz. Nach der Tutti-Vorstellung des Hauptthemas wiederholt die einsetzende Solovioline das Thema: nicht! Sondern stellt sich, ungehorsam, mit einem träumerischen Adagio vor. Tja, und das Hauptthema – ist überhaupt nicht das Hauptthema! Sondern nur die Begleitung des Hauptthemas, das nun von der Solovioline vollständig vorgestellt wird.
Im dritten Satz (eine interessante Kombination aus Menuett und Rondo) wird, aus heiterem A-Dur-Himmel, der reguläre Ablauf unterbrochen. Ein a-moll-Allegro im 2/4-Takt „Alla Turca“ tritt dazwischen, in welchem die Bässe nicht gestrichen, sondern mit dem Bogen auf die Saiten geschlagen werden, al legno. Über den zweiten Satz, das Adagio, könnte man lange nachsinnen, zum Beispiel, was die seltsamen Moll-Anklänge zu bedeuten haben, Zitate aus der Ballettmusik Le Gelusie dell Serralio – Die Eifersucht im Serail (KV Anh.109). Ob es wohl einen inhaltlichen Zusammenhang gibt zu den harschen „türkischen“ Motiven im letzten Satz………? Oder ist es nur ein Zufall? Der Geigenvirtuose Antonio Brunetti jedenfalls jammert über das technisch angeblich zu kunstvolle Adagio. Obwohl Mozart über seine Violinkonzerte schreibt: "Ich bin kein großer Liebhaber von Schwierigkeiten". Alles ist eben relativ. Jedenfalls komponiert Mozart 1781 für den Jammerer ersatzweise das:
Adagio für Violine und Streichorchester in E-Dur, KV 261
Es ist tatsächlich etwas einfacher. Setzt man es an die Stelle des ursprünglichen Adagio, so ist das, als würde man ein Kapitel in einer Geschichte durch ein anderes ersetzen: es verändert den Gang der Handlung.
Im Brief vom 8. April 1781 erwähnt Mozart außerdem ein für Brunetti komponiertes Rondeau, das:
Rondo für Violine und Streichorchester in B-Dur, KV 269
Ob es ebenfalls auf Grund von Brunettis Jammereien als Ersatz für ein zu schwieriges Stück geschrieben wurde und wenn ja, wofür, ist ungewiss.
Ein musikalischer Spaß für 2 Violinen, Viola, Kontrabass und 2 Hörner in F-Dur, KV 522
Stellen Sie sich vor – ein Politiker hält eine Rede. Ein kleiner Parteivorsitzender, ein großer Bürgermeister, ein gewöhnlicher Abgeordneter oder ein hoher Minister, zum Beispiel. Der Redner spricht mit vielen und großen Worten, mit Nachdruck und Gesten und Pathos; wiederholt das Gesagte, in mehreren Schleifen und Schleifchen, wobei er es dreht und wendet und mit Floskeln verziert. Vielleicht passiert ihm ein Schnitzer: ein kleiner Versprcher, einen Fallfehler, ein falsches Vokalbel, womöglich handelt er im Effekt! Im allgemeinen sind die Wörter ta-del-los, die Phrasen richtig! der Aufbau ist schön…, die Vortragszeichen beEINDRUCKEND eingesetzt!!!
Allein, dem schönen Ganzen fehlt – der Inhalt.
Das ist überhaupt nicht zum Lachen; wenn man sich‘s recht überlegt, sogar: sehr schlimm und fast zum Weinen. Damit es lustig wird, muss erst ein Kabarettist auf die Idee kommen, ein Parodie-Programm auf all dieses leere Gerede zu schreiben. Da, endlich! können wir herzhaft lachen. Warum? Weil uns da jemand eine traurige Wirklichkeit überhaupt erst bewusst macht, indem er durch Übertreiben, Verdichten, Kontrastieren, Verfremden etwas schafft, das uns an die Wirklichkeit nur: erinnert. So entsteht Humor, und so kommt Humor auch in die Noten.
Mozarts „Musikalischer Spaß“ macht sich NICHT über dörfliche Blasmusikkapellen lustig – da würde der ernste Hintergrund als Kontrast fehlen (die falschen Töne sind nur so was wie Versprecher in einer Politiker-Rede). Und Mozart mockiert sich auch NICHT über schlechtes Komponieren im handwerklichen Sinn oder über mangelnde „Einfälle“, denn auch das ist ja nicht schlimm. Wirklich schlimm hingegen ist: Kunst ohne Inhalt; die nur Pseudokunst sein kann und dennoch oft zur Kunst hochstilisiert wird, durch Werbung; wie die angeblich prächtigen Kleider des Kaisers, die in Wirklichkeit gar nicht da sind.
Genau das entlarvt Mozart auf hinterhältig-spielerische Weise: Kunst, die keine ist, Musik ohne Inhalt, Klangrede ohne Sinn. Das Lustige ist: Indem Mozart den viel diskutierten „außermusikalischen Inhalt“ ausnahmsweise gründlich weglässt, führt er uns vor Ohren, wie sehr wir diesen Inhalt (den es angeblich gar nicht gibt), vermissen würden (gäbe es ihn tatsächlich nicht).
Stellen Sie sich also vor, Sie sitzen jetzt (nachdem Sie vor der Pause ein echtes Konzert besucht haben) in einem musikalischen Klang-Gerede-Kabarett. Und der Kabarettist (Star- oder Ausnahme-Kabarettist, wie heutige Journalisten schreiben würden) heißt: Wolfgang Amadeus Mozart. Viel Spaß!
(Sabine M. Gruber)
Esterházy Streichquartett Festival
3.–5. Juni 2011
Das Streichquartett,
ist eine Erfindung, um deren Urheberschaft man sich ebenso streiten könnte, wie um die des Schnitzels: Wien – oder Mailand? Tja. Die Idee eines auf die Quintessenz reduzierten Streichorchesters für den Hausgebrauch liegt Mitte des 18. Jahrhundert wohl in der Luft – zumindest zwei Komponisten greifen sie etwa zeitgleich auf. Luigi Boccherini in Mailand und Joseph Haydn in Wien. Wobei der Milanese sich im fraglichen Zeitraum seiner ersten Streichquartett-Kompositionen verdächtigerweise mehrere Monate lang in Wien aufhält…
Einerseits handelt es sich um eine Weiterentwicklung der barocken Triosonate, welche unbestritten italienischen Ursprungs ist. Haydn andererseits hat einen ganz konkreten Erfindungs-Anlass. Sagt er zumindest. Fürst Karl Joseph Weber von Fürnberg nämlich sucht Stücke zum häuslichen Musizieren für genau vier Musiker: seinen Pfarrer, seinen Gutsverwalter, einen Cellisten namens Anton Albrechtsberger – und Haydn selbst. Was für ein folgenreich zufälliger Umstand. Haydn ergreift die Gelegenheit, komponiert ein Stück für genau diese Streicher-Formation und trifft damit ein offenbar schlummerndes Bedürfnis. Welches er im Laufe der nächsten Jahre und Jahrzehnte mit insgesamt 83 Streichquartetten mehr als befriedigt.
Seine ersten beiden Streichquartette erscheinen 1764 als Simphonies ou Quatuors dialogué. Dass beim Streichquartett die vier Musiker quasi in einer Art Dia- oder vielmehr: Quattrolog stehen, das findet auch Goethe, der an seinen Freund Zelter schreibt: Diese Art Exhibitionen waren mir von jeher von der Instrumental-Musik das Verständlichste, man hört vier vernünftige Leute sich untereinander unterhalten. Doch sind sie alle vier wirklich gleichberechtigt? In der Theorie, ja, in der Praxis wohl nicht. So wie auch im privaten Leben meist einer dominiert, wenn vier zusammenkommen. Im günstigsten Fall wechseln sie einander ab, beim Herrschen. Wie schon der Name sagt, wird Kammer-Musik ursprünglich für das ganz private Leben erfunden, zum Selberspielen und Vorführen im kleinen Kreis; Vergnügen, Unterhaltung, Überraschung! soll sie bieten. Erst im 19. Jahrhundert wird die Kammermusik im allgemeinen und das Streichquartett im besonderen sogenannt professionell und füllt immer größere Konzertsäle.
Haydns Erfindung erfreut sich bis heute beim Publikum größter Beliebtheit, und auch bei Komponisten. Niemand hat je wieder so viele Streichquartette komponiert wie Joseph Haydn – und niemand hat so erstaunliche Spuren hinterlassen, die zum Teil allerdings ziemlich verwischt sind. Sie aufzuspüren und auszuhorchen ist ein ebenso spannendes wie unterhaltsames Abenteuer.
Schloss Esterhazy, Freitag, 3. Juni, 19.30 Uhr
Szymanowski Quartet
Andrej Bielow, 1. Violine
Grzegorz Kotów, 2. Violine
Vladimir Mykytka, Viola
Marcin Sieniawski, Violoncello
Waclaw z Szamotul (um 1520-1560)
Drei polnische Choräle
Krzysztof Penderecki (geb. 1933)
Quartetto per archi no. 3 (Streichquartett Nr. 3) „Leaves of an unwritten Diary“ (2008)
Joseph Haydn (1732-1809)
Streichquartett Nr. 62 in C-Dur op. 76/Nr. 3 (Hob.III:77) „Kaiserquartett“ (1797)
1. Allegro
2. Poco Adagio. Cantabile (Var. I-IV)
3. Menuet. Allegro - Trio
4. Finale. Presto
Karol Szymanowski (1882-1937)
Notturno e Tarantella für Violine und Klavier op. 28 (1914/15) bearbeitet für Streichquartett von Miroslav Skoryk
1. Notturno
Lento assai – Allegretto scherzando
2. Tarantella
Presto appassionato – Meno mosso (espressivo ed affettuoso)
Ludwig van Beethoven (1770-1827)
Streichquartett Nr. 2 in G-Dur op. 18/Nr. 2 (1799)
1. Allegro
2. Adagio cantabile – Allegro – Tempo I
3. Scherzo. Allegro
4. Allegro molto quasi Presto
Das Szymanowski Quartet, ist ein Ensemble aus zwei ukrainischen und zwei polnischen Musikern, die allesamt in Hannover leben – wo sie einander beim Studium an der Hochschule für Musik und Theater kennen gelernt haben. Nun unterrichten alle vier an dieser Hochschule. Die vier Musiker zeichnen sich durch hervorragende Technik, angeborene Musikalität und ein außerordentliches Empfinden für die Klangbalance im Ensemble aus. Kombiniert mit einem tiefen Verständnis ihres Repertoires und einem Engagement, das sich elektrisierend auf das Publikum überträgt, besitzt das Szymanowski Quartet alle Kennzeichen von Größe. Ich garantiere, dass Sie noch viel von diesem talentierten jungen Ensemble hören werden. Schreibt Paul Cutts im Mai 2002 in The Strad. Er soll Recht behalten. Andrej Bielow (geb. 1981 in Khmielnizkiy, Ukraine), Grzegorz Kotów (geb. 1972 in Waldenburg, Polen), Vladimir Mykytka (geb. 1972 in Lemberg, Ukraine) und Marcin Sieniawski (geb. 1970 in Warschau, Polen) sind Solo-Musiker, die im Quartett innerhalb kürzester Zeit mit Intellekt und Leidenschaft Kritik und Publikum erobern. Heute ist das Szymanowski Quartet in allen wichtigen Musikzentren und Konzerthäusern der Welt zu Gast und vielfach preisgekrönt. Die vielleicht größte Auszeichnung: der Szymanowski-Preis. Dieser von der Karol Szymanowski Foundation gestiftete Preis wird zum ersten Mal in seiner Geschichte an ein Streichquartett vergeben. 2008 gründen die vier Musiker, die sich als Grenzgänger auf verschiedensten Ebenen verstehen, das Lviv Chamber Music Festival, welches nun alljährlich in Lemberg stattfindet, an der Grenze zwischen der Ukraine und Polen – Weltkulturerbe der UNESCO. Austausch mit anderen Musikern und mit verschiedenen Kulturen ist dem Szymanowski Quartet ein Anliegen. Mitschnitte und CDs dokumentieren die künstlerische Vielseitigkeit des Ensembles; zum Beispiel eine CD-Reihe, die Karol Szymanowski in den Mittelpunkt stellt, den Namensgeber, der für einen wichtigen Repertoire-Schwerpunkt steht: moderne Kammermusik.
Die Instrumente: Andrej Bielow spielt eine Violine von Antonio Stradivari (aus dem Instrumentenfond der Deutschen Stiftung Musikleben), Grzegorz Kotów eine Violine von Arwed Harms (Fivizzano 2009), Vladimir Mykytka eine Bratsche von Hans Schicker (Freiburg im Breisgau 1983) und Marcin Sieniawski ein Cello von Christian Erichson (2007).
Drei polnische Choräle von Waclaw z Szamotul (um 1520-1560)
Waclaw z Szamotul (auch: Waclaw Szamotulski oder Venceslaus Samolutinus), in der polnischen Stadt Szamotuly bei Poznan geboren, ist ein echter Renaissance-Mensch: sehr universell gebildet. Er studiert Recht, Mathematik und Philosophie in Krakau, ist Komponist und Dichter, schreibt in Polnisch und Latein. Nur wenige Kompositionen sind erhalten, hauptsächlich Vertonungen geistlicher Texte, Messen, Motetten, Choräle. Außerhalb Polens sind Waclaw z Szamotuls Werke bisher wenig bekannt – echte Entdeckungen, die sich durchaus mit den Kompositionen seines berühmten italienischen Zeitgenossen Palestrina messen können. Die Musiker des Szymanowski Quartets haben drei seiner schönsten Choräle für Streichquartett adaptiert.
Quartetto per archi no. 3 (Streichquartett Nr. 3), „Leaves of an unwritten Diary“, von Krzysztof Penderecki (geb. 1933)
Avantgarde oder Tradition? Für Penderecki weder Gegensatz noch Entweder-Oder. Für ihn hat Musik immer: Wurzeln, vielfältig, weit und tief verzweigt, die man hören und spüren kann. Am tiefsten wurzelt wohl das Polnische. Und in Polen verwurzelt er sich (sicherheitshalber) noch in verblüffend anderer Weise: Er beginnt früh, eine Baum-Sammlung anzulegen, in seiner Heimat, und besitzt mittlerweile das größte Arboretum in ganz Osteuropa mit über 1700 Baumarten! Musikalisch schlägt er von frühester Kindheit an Wurzeln in Geige und Klavier, ist fasziniert vom Klang der Instrumente. Dann lernt er das Handwerk des Komponierens, studiert die gesamte europäische Musik. Daneben absolviert er auch noch ein Philosophie-, Literatur- und Kunststudium. Auch in der Religion ist er verwurzelt, doch in keiner bestimmten, denn in seiner Familie lernt er verschiedene Religionen kennen. Postserieller Avantgardist? Spätmoderner Klassiker? Seine Musik lässt sich nicht einordnen. Was sie von vielen sogenannt zeitgenössischen Werken unterscheidet: Sie lässt bei alles Spannung auch Entspannung zu und behält bei aller Freiheit immer Struktur und Form. Und Schönheit. Wie die Bäume in seinem Arboretum. Musik schreiben ist für ihn selbstverständlich eine ernste Angelegenheit – aber immer auch ein Spiel. Er hat Witz und Humor. Er komponiert nicht für Spezialisten, sondern für ein ganz normales Publikum. Nicht von ungefähr wird Pendereckis vielsagend sprechende Musik oft in Filmen verwendet: Der Exorzist, Shining, Fearless, Shutter Island… Das Streichquartett Nr. 3, 2008 zu seinem 75. Geburtstag in Warschau uraufgeführt, ist ein wunderbares Beispiel. Es trägt den Untertitel Blätter eines ungeschriebenen Tagebuchs und erzählt in fünfzehn Minuten mehr, als auf ein paar Tagebuchseiten Platz hätte. Gegen Ende des Stücks taucht eine Zigeuner-Melodie auf, wie Penderecki sagt, eine Kindheitserinnerung an seinen Vater, der diese Melodie oft und oft gespielt hat. Vorhang auf, Film ab!
Streichquartett Nr. 62 in C-Dur op. 76/Nr. 3 (Hob.III:77) „Kaiserquartett“ (1797) von Joseph Haydn (1732-1809)
Das Quartett beginnt mit einem frechen Tanzlied, ansteckend fröhlich. Normalerweise spielt Haydn erst im Finale mit dem Dudelsack-Effekt – hier würzt er schon den ersten Satz damit. Wenn das Cello seine durchgängig dröhnenden halben Noten spielt, auch Bordun oder Brummton genannte, dann klingt es beinahe wie: zwei Dudelsäcke! Berühmt wird das Quartett allerdings durch den zweiten Satz. Genauer gesagt durch die Melodie, welche Haydn als Thema des zweiten, kantablen Satzes einsetzt und dann die streng beibehaltene Melodie durch alle vier Instrumente wandern lässt. Es handelt sich um die Volkshymne für den Kaiser, die er kurz zuvor komponiert hat, als Propaganda-Gegenstück zur französischen Marseillaise. Inspirationsquelle: ein kroatisches Volkslied. Am 12. Februar 1797 wird das Lied anlässlich des 29. Geburtstags von Franz II. in allen Wiener Theatern gesungen. Wegen der schweren Zeiten werden leichte Stück gespielt. Im Burgtheater ist der letzte Kaiser des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation sogar selbst zugegen! (Neun Jahre später wird er umständehalber zum ersten Kaiser von Österreich und damit zu Franz I. mutieren, auch Franz II./I. genannt.) Das Lied wird in der Pause von eigens verteilten Handzetteln vom Publikum gesungen – der Kaiser ist ganz gerührt. Haydn komponiert das Kaiserlied auf Vorschlag von Franz Josef Graf Saurau, dem kaiserlichen Berater, auf einen Text, der beim Hofpoeten und Opportunisten Lorenz Lopold Haschka eigens in Auftrag gegeben wird.
Gott erhalte Franz, den Kaiser,
Unsern guten Kaiser Franz!
Lange lebe Franz, der Kaiser,
In des Glückes hellstem Glanz!
Ihm erblühen Lorbeerreiser,
Wo er geht, zum Ehrenkranz!
Gott erhalte Franz, den Kaiser,
Unsern guten Kaiser Franz!
Haydns Vertonung hat allerdings nichts Aufwiegelndes à la Marseillaise an sich. Es ist eher ein feierliches Gebet, eine Aufforderung an erhitzte Gemüter, sich zu beruhigen. (Gar nicht im Sinn des Auftraggebers! Das kommt eben davon, wenn man einen Künstler mit Werbung beauftragt.)
Notturno e Tarantella für Violine und Klavier op. 28 (1914/15) von Karol Szymanowski (1882-1937), bearbeitet für Streichquartett von Miroslav Skoryk
Karol Szymanowski hat als Kind einen Unfall, bei dem er sich das Knie schwer verletzt; trotz mehrerer Operationen versteift sich das Gelenk. Ein schlimmes Unglück. Doch als der 1. Weltkrieg ausbricht, wandelt sich der Unglücksfall zum Glücksfall. Karol (32) gilt als Invalide und zieht sich auf den Gutshof der Eltern in der heutigen Ukraine zurück. Dort, abgeschnitten von der großen weiten Welt, komponiert er sein erstes Violinkonzert und einige Kammermusikwerke, unter anderem, im Frühjahr 1915, das Notturno. Und die Tarantella? Unglaublich, aber vermutlich wahr: Ein lauer Sommerabend. Pawel (Kochanski, der Geiger), August (Iwanski, ein junger Gutsbesitzer) und Karol sind zu Gast auf einem benachbarten Gutshof. Den Gastgeber rufen dringende Geschäfte. Die Zurückgebliebenen suchen verzweifelt nach einem hochgeistigen Getränk. August (endlich!) stöbert eine Flasche Cognac auf, ausgezeichnet, alt. Die drei leeren die Flasche, und Karol, angeheitert heiter, wirft eine Tarantella aufs Notenpapier. Und widmet sie August, in Dankbarkeit. Aufgeführt wird die Tarantella samt dem Notturno erst fünf Jahre später in Warschau, von seinem Bruder, dem Pianisten Feliks Szymanowski und Pawel, dem trinkfesten Geiger. Hier die kürzest mögliche Zusammenfassung: Eine spätromantische Sommernacht, schwül und schwer, irgendwo in Spanien. Und dann ein ausgelassener spanischer Tanz ukrainischer Provinienz – mit französischem Cognac verfeinert.
Streichquartett Nr. 2 in G-Dur op. 18/Nr. 2 (1799) von Ludwig van Beethoven
Unter op. 18 sind, so will es die Tradition, sechs Quartette zusammengefasst. Das G-Dur-Quartett ist, genau spiegelverkehrt zum G-Dur-Quartett seines Lehrers Joseph Haydn, das zweite, das Beethoven komponiert. Und auch sein Quartett ist dem Fürsten Franz Joseph Maximilian von Lobkowitz gewidmet und entsteht 1799. Georg Joseph Vogler schreibt über den Charakter der Tonart G-Dur: Die naiven Handlungen, besonders des unschuldigen laendlichen Vergnuegens, koennen hierinn simpler als in den andern Toenen ausgedrueckt werden. Und Gotthelf Ferdinand Hand meint: Doch eignet sie auch zu jeder Art von leichtfertiger Demonstration und selbst für ironische Spiele und leicht gehaltenen Scherz. Der charakterisierende Künstler wird sie in halbkomischer Darstellung ausdrucksvoll behandeln. Genau! Beethovens G-Dur-Quartett hat den Beinamen „Komplimentierquartett“, weil es darin angeblich vor höfisch höflichen Verbeugungen nur so wimmelt. Der erste Satz hat tatsächlich etwas Rokokohaftes an sich, doch nur scheinbar. Denn die Verbeugungen sind von Augenzwinkern begleitet. Im zweiten Satz verliert der komplimentierende Höfling überhaupt die Contenance – wenn auch nur vorübergehend, in einem ziemlich wild gewordenen Allegro zwischen zwei gesitteten Adagio-Teilen. Im letzten Satz wird dann die Stimmung geradezu ausgelassen, ja freudentaumelig. Und Vorsicht! Große Vergnügunsgefahr.
Schloss Esterhazy, Samstag, 4. Juni 2011, 11.00 Uhr
Silesian String Quartet
Szymon Krzeszoviec, 1. Violine
Arkadiusz Kubica, 2. Violine
Lukasz Syrnicki, Viola
Piotr Jonsik, Violoncello
Joseph Haydn (1732-1809)
Streichquartett Nr. 41 in D-Dur op. 50/Nr. 6 (Hob.III:49) „Der Frosch“ (1787)
1. Allegro
2. Poco Adagio
3. Menuetto: Allegretto
4. Finale: Allegro
Grazyna Bacewicz (1909-1969)
Streichquartett Nr. 4 (1951)
1. Andante – Allegro molto
2. Andante
3. Allegro giocoso
Ludwig van Beethoven (1770-1827)
Streichquartett in e-Moll op. 59/Nr. 2 (1806)
1. Allegro
2. Molto Adagio. Si tratta questo pezzo con molto di sentimento
3. Allegretto - Maggiore. Thème russe
4. Finale: Presto
Das Silesian String Quartet,
hat sich schlicht und einfach nach seiner Heimat benannt: Schlesisches Streichquartett, Kwartet Slaski. Gegründet wird es nämlich 1978 von Absolventen der Karol-Szymanowski-Musikakademie Kattowitz in Oberschlesien. Die Mitglieder des Ensembles feilen auch nach ihrem Studium an ihrer Kunst des Quartett-Spielens, besuchen Meisterkurse bei Mitgliedern verschiedenster internationaler Top-Streichquartette. Und innerhalb weniger Jahre steigt das Silesian String Quartet selbst zu so einem internationalen Top-Ensemble auf, das bei allen wichtigen Festivals und in allen berühmten Konzertsälen der Welt zu Gast ist. Die Zusammensetzung ist sehr stabil. Arkadiusz Kubka, zweiter Geiger, ist fast von Beginn an dabei, Bratschist Lukasz Syrnicki und Cellist Piotr Jonsik spielen schon seit mehr als 20 Jahren im Ensemble. Szymon Krzeszoviec hat den Part der ersten Violine und zugleich die Leitung erst vor nicht einmal 10 Jahren übernommen. Erst?! Ja, sagt Szymon, und zitiert den langjährigen Cellisten des Borodin-Quartetts: Die ersten 25 Jahre sind sehr schwierig – aber dann ist alles kein Problem mehr. Das Repertoire des Quartetts hat eine sehr große Bandbreite. Über 300 Werke stehen auf der Liste, davon fast 200 Kompositionen des 20. und 21. Jahrhunderts, darunter wieder 100 Uraufführungen. Ein wichtiger Schwerpunkt liegt auf zeitgenössischer polnischer Kammermusik. Ende letzten Jahres ist eine neue CD erschienen, in der Edition Abseits. Sie verschafft Werken der polnisch-jüdischen Komponisten Simon Laks (1901-1983), Roman Padlewski (1915-1944) und Joachim Mendelson (1897-1943) Gehör. Zwei CDs sind bereits mit dem Fryderyk (wie Fryderyk Chopin) ausgezeichnte worden, dem wichtigsten Musikpreis Polens, bekannt als Polnischer Grammy. Stefan Drees schreibt: Das Silesian String Quartet überrascht durch seinen überlegten Zugriff auf die Werke, aber auch durch seine Wirkung als Ensemble mit höchst homogener Ausstrahlungskraft in Bezug auf Klang, Balance und Präzision.
Die Instrumente: Szymon Krzeszowiec spielt eine Violine von Marinus Capicchioni (San Marino 1942), Arkadiusz Kubica eine Violine von Charles Simonin (Paris 1842), Lukasz Syrnicki eine Viola von Jan Bobak (Nowy Targ 1993), und Piotr Janosik ein Cello von Antonio Gibertini (Padua 1841).
Streichquartett Nr. 41 in D-Dur op. 50/Nr. 6 (Hob.III:49) „Der Frosch“ (1787) von Joseph Haydn (1732-1809)
Beethoven sagt, er habe von Haydn (bei dem er Unterricht genommen hat), nichts gelernt. (Zumindest behaupten das ein Freund und ein Schüler Beethovens, Franz Gerhard Wegeler und Ferdinand Ries, in ihren berühmten Biographischen Notizen über Ludwig van Beethoven.) Erst kürzlich jedoch ist entdeckt worden*, dass Ludwig bei Joseph zumindest eines gelernt hat, nämlich: quaken. Wobei er das Quaken in eine Art Quäken umdeutet und dieses nicht den Fröschen überlässt, sondern den furchtsamen Jüngern in seinem Opern-Oratorium Christus am Ölberg (1800), und zwar in der selben Tonart wie Haydns Frösche: in D-Dur. Die Sache ist die: Böse Krieger jagen Christus (Ergreift und bindet ihn!) – seine Jünger denken an nichts anderes als ihre eigene Haut zu retten! Und outen sich als die lächerlichsten Jammerlappen der Musikgeschichte: Erbarmen ach Erbarmen! Es ist um uns geschehn! Wie wird es uns ergehn? Was die Jünger dabei mit ihren Stimmbändern vollführen, machen die Streicher in Haydns Froschquartett mit einer Technik namens Bariolage: Sie spielen eine Note erst auf der leeren Saite, dann dieselbe Note – nur diesmal auf der nächsttieferen Saite gegriffen, und das in schnellem Wechsel. Selbe Tonhöhe, andere Klangfarbe, weil die leere Saite nicht vibriert, die gegriffene schon. Der Zuhörer weiß nicht warum, aber: es quakt oder quäkt oder jammert. Je nach inhaltlichem Zusammenhang. Im Finalsatz des Streichquartetts op. 50/Nr. 6 jedenfalls hört den Bariolage-Effekt irgendjemand als Gequake, irgendwann, und weil Haydn ja für seine Tierliebe berühmt ist, bleibt Der Frosch am ganzen Quartett für ewige Zeiten hängen. Das Quartett ist tatsächlich ein heiteres Stück, schon durch die Tonart D-Dur. In den ersten drei Sätzen allerdings treten keine Frösche auf. Vielleicht kommen andere Tiere vor? Warum eigentlich nicht. Haydn komponiert ja immer Geschichten. Und wer würde schon in seiner Schöpfung und seinen Jahreszeiten die Tiere erkennen, wären man sie ihres Textes beraubt?
* Am 29. April 2011 von der bislang unbekannten österreichischen Froschquartettforscherin Sabine M. Gruber.
Streichquartett Nr. 4 (1951) von Grazyna Bacewicz (1909-1969)
Grazyna Bacewicz ist eine der faszinierendsten und bedeutendsten Persönlichkeiten des polnischen Musiklebens im 20. Jahrhundert. Als Kind schon erhält sie Unterricht von ihrem Vater, in Klavier, Geige und – Komposition. Sie studiert in Warschau Violine und Komposition und außerdem noch Philosophie; später geht sie nach Paris, nimmt Unterricht bei Nadja Boulanger. Ihre internationale Karriere als Geigerin gibt sie 1955 auf, um sich ganz dem Komponieren zu widmen. Obwohl: So ganz nebenbei schreibt sie Erzählungen und Romane, die in Polen erfolgreich veröffentlicht werden. Sie ist äußerst produktiv und vielseitig, komponiert eine Rundfunkoper, drei Ballette, sechs Sinfonien, zahlreiche Orchesterwerke, Instrumentalkonzerte und Kammermusikwerke. Sie ist eine wahre Meisterin der Instrumentation. Streichinstrumente und Klavier sind in ihrem Schaffen von zentraler Bedeutung. Ihr 4. Streichquartett schreibt sie 19