Spiegelwelt – eine Literaturminiatur von Sabine M. Gruber

Man hätte meinen können, sie sei auf ihre alten Tage eitel geworden, als sie eines Tages um einen Handspiegel bat. 

Stets hatte sie ihn neben sich liegen, und oft griff sie danach. Es war ein einfacher Spiegel. Oval. Dunkler Plastikrahmen. Wie groß? Zwanzig Zentimeter? 

Dabei fällt mir ein, dass sie vermutlich nie um diesen Spiegel gebeten hatte. Hatte sie denn jemals um etwas gebeten? Nicht solange ich mich an sie erinnere. Davor? Möglich. Doch davon weiß ich nichts. Als ich auf die Welt kam, war sie längst nicht mehr jung. Über sechzig, auf jeden Fall. Ist sie denn jemals jung gewesen? Vor dem Tod ihrer Mutter muss sie jung gewesen sein. Dann hat sie sich um ihre jüngeren Geschwister gekümmert. Und später um deren Kinder. Und wieder um deren Kinder. 

Eines davon bin ich. 

Älter geworden ist sie bis zum heutigen Tag nicht. 

Ich sitze an ihrem Bett, wie schon so oft. Sie ist in ein anderes Zimmer gebracht worden. Doch heute ist alles anders. 

Der Spiegel ist fort.  

Sie richtet sich zum Sterben, hat Schwester Adolfine gesagt, und da wollten wir flüchten. Genau genommen wollte nur ich flüchten, er jedoch sagte: Wir bleiben jetzt hier. Sehr bestimmt sagte er das, obwohl das Bestimmte sonst nicht seine Art ist, und setzte sich hinter mich.

Zu zweit sitzen wir an ihrem Bett, auf zwei Stühlen, hintereinander. Alles ist weiß. Das Bettgestell, das Fensterkreuz neben dem Bett, das Bettzeug. Ihr Gesicht. Der Habit von Schwester Adolfine. Nur das Kreuz an der Wand ist braun und das Kreuz, das um den Hals der Schwester baumelt.

Sie tut sich schwer mit dem Sterben, sagt Adolfine, sanft, streicht ihr über die Stirn, beinahe liebevoll, und lässt uns allein.

Ist sie denn bei Bewusstsein? Nimmt sie uns denn wahr? Weiß sie denn, dass wir da sind? Ist das denn wichtig? Die Augen in ihrem weißen Gesicht sind fest geschlossen, und sie atmet schwer, sehr schwer durch den zahnlos eingefallenen Mund. 

Sie will nicht sterben, denke ich, trotz allem.

Das Bett in ihrem Zimmer im Pflegeheim war so aufgestellt gewesen, dass das Fenster sich genau hinter ihrem Kopf befand. Acht Jahre von zweiundneunzig Jahren lag sie dort. Auf dem Rücken. Sie konnte nicht mehr aufstehen. Sie konnte nicht nach draußen sehen. Nicht direkt. Doch im Spiegel, den sie hob und drehte und wendete, im Spiegel sah sie die ganze Welt. Himmel. Regen. Schnee. Sonne. Nebel. Auffliegende Vögel. Kronen von Laubbäumen. Junge Blätter, hellgrün, im Wind sich wiegend, sich verfärbend, fallend.

Wenn sie nicht in den Spiegel sah, richtete sie ihren Blick auf die Tür. Sie wartete auf Besucher. Ja, sie bekam täglich Besuch. Kinder, Enkelkinder? Sie hatte weder einen Beruf lernen noch heiraten dürfen, Besuch bekam sie von jenen Menschen, an die sie alles verschenkt hatte, was sie besaß. Ihre Zeit. Und diese Zeit kam wundersam zurück. Ohne dass sie darum gebeten hätte, teilten die Menschen Zeit mit ihr, so wie sie die ihre mit ihnen teilte und immer geteilt hatte, ihr Leben lang. 

Sie hatte alle Menschen in ihrem Zimmer, sie hatte die ganze Welt in ihrem Spiegel, warum sollte sie sterben wollen? 

Jetzt wird sie unruhig. Atmet schwer. Bäumt sich auf. Lautlos. Als würde sie mit dem Tod ringen. Ich rufe die Schwester. Sie kommt. Lautlos. Beugt sich tief über sie. Legt ihr die Hände fest um das Kruzifix. Schlingt einen Rosenkranz darüber. Fängt an zu beten. Laut. Vater unser, der du bist im Himmel. Immer wieder. Die Sterbende wird ruhig. Ich zähle sechs Vaterunser. Sieben. In der Stunde unseres Todes. Sie tut einen tiefen Atemzug und bläst ihr Leben aus, schwer, schweren Herzens. Die Schwester verlässt den Raum. 

Plötzlich sind wir allein. Zu zweit plötzlich. Gerade waren wir noch zu dritt.


(© 2015 Sabine M. Gruber. Gedruckt in kunstSTOFF Nr. 19 – Zeitschrift für Kunst und Kultur)

Kurze Prosa

Spiegelwelt
gedruckt in kunstSTOFF Nr. 19 – Zeitschrift für Kunst und Kultur



Auriel und das Tor der Erinnerung
gedruckt in rororo 24013

 

Nach 16 Jahren Babypause
gedruckt in Die Presse/Spectrum 22.11.2008

 

Rondo maternel
gedruckt in Frauenbild: Das Bild der Frau in Kunst und Literatur, Literaturedition NÖ 2003

 

Die Gefahr der großen Fugen

gedruckt in Die Presse/Spectrum 11/2010

Rondo maternel*

I Love you


    Erst wenn unsere Mütter im Pflegeheim sind und keine Vorstellung mehr von den Menschen und Dingen und von uns haben, können wir sie lieben.
    Mutters Blick ist unstet; er flackert ins Leere; letzte Woche noch war ihr Blick blau, nun ist er ohne Farbe, gläsern. Du sitzt neben ihr, nimmst ihre knochige Hand; ihre Hände liegen in deinen Händen, auf dem pflegeleichten Resopaltisch; sie haben keinen Druck mehr; schlaff hängen sie an Armen, die in hellblau flauschigen Ärmeln stecken, die Ärmel sind Teil einer Jacke; die Jacke ist Teil eines Hausanzugs; er ist zu groß; vor zwei Wochen noch, als du ihn gekauft hast, war er gerade richtig; er ist schick, er ist praktisch, er ist angesabbert. Auch die Hausschuhe, in denen Mutters Füße stecken, sind neu; außen karierter Filz, innen gelblicher, flauschiger Kunstpelz; auch die Hausschuhe hast du vor zwei Wochen gekauft; das Kaufen neuer Kleidungsstücke für Mutter hat dich beruhigt; die Vorstellung hat dich beruhigt, die Vorstellung von Neubeginn, Ordnung und Dankbarkeit; die neuen Kleider haben dein schlechtes Gewissen eingehüllt und deine Angst. Nun stehen die Hausschuhe auf der Fußstütze des Rollstuhls, mit den abgemagerten Füßen deiner Mutter drinnen. Eine Pflegerin kommt; sie legt Mutters Hände um ein geschnabeltes Gefäß und führt dieses zum Mund; der Mund ist zusammengepreßt; er will nicht trinken.
    Erst wenn unsere Mütter im Pflegeheim sind und keine Vorstellung mehr von den Menschen und Dingen und von uns haben, können wir sie lieben.
Hätte sie dich geliebt, sagst du, hättest du sie lieben können. Sie hat aber, sagst du, immer nur sich geliebt. Nie hat sie dich verstanden. Immer hat sie sich in dein Leben eingemischt. Nie hat sie dich als selbständiges Wesen betrachtet. Da sagt die Pflegerin laut in deine Gedanken, lauter als nötig: Wir. Wir, sagt sie zu deiner Mutter, wir sollten jetzt wirklich etwas trinken! Und in diesem Wir geht deine Mutter unter. Augenblicklich hört sie auf, ein selbständiges Wesen zu sein. Wir, sagt die Pflegerin, immer noch laut, nun zu dir gewandt, wir wollen ja auch nichts essen! Wenn das so weiter geht, müssen wir eine Magensonde einbauen.
Erst wenn unsere Mütter im Pflegeheim sind und keine Vorstellung mehr von den Menschen und Dingen und von uns haben, können wir sie lieben.
    Dein Blick gleitet durch den Raum. An Reihen von pflegeleichten Resopal- tischen sitzen Mütter in neuen flauschigen Hausanzügen, hellblau, hellgrün, hellrosa, hellgelb; ihre Füße stecken in neuen Filzhausschuhen, die auf Fußstützen von Rollstühlen stehen. Hat sie angerufen, Schwester? Nein. Aber sie hat doch gesagt, sie kommt. Wann kommt sie denn immer. Um zwei. Es ist vier, da wird sie nicht mehr kommen. Meine Tochter, sagt die hellgrüne Mutter laut, lauter als nötig, zu der Mutter im Rosenmuster neben ihr, meine Tochter kommt jeden Sonntag, wissen Sie. Die Pflegerin schiebt den Rollstuhl der hellgrünen Mutter vor den Fernsehapparat. Erst wenn unsere Mütter im Pflegeheim sind und keine Vorstellung mehr von den Menschen und Dingen und von uns haben, können wir sie lieben.
    Das schlimmste für dich ist der Geruch. Essen, Inkontinenz, Desinfektion, alternde Körper. Du versuchst, die Luft anzuhalten. Du siehst auf die Uhr. Zwanzig Minuten bist du schon hier. Niemand kann zwanzig Minuten lang die Luft anhalten. Deine Mutter spricht, an dir vorbei, Sätze, die du nicht verstehst. Sie haben nichts mit dir zu tun und nichts mit ihr. Zehn Minuten wirst du noch bleiben. Dann ist eine halbe Stunde um. Jetzt, sagst du, nach genau zehn Minuten, jetzt muß ich aber wirklich heim zu Julia. Julia ist deine Tochter. Alle Mütter, denkst du plötzlich, alle Mütter waren einmal Töchter ihrer Mütter. Morgen, sagst du, morgen bringe ich sie mit. Ich dank dir schön, sagt deine Mutter plötzlich, als du schon bei der Tür bist, für den lieben Besuch.

    Erst wenn unsere Mütter im Pflegeheim sind und keine Vorstellung mehr von den Menschen und Dingen und von uns haben, können wir sie lieben.

    Am nächsten Tag, als du mit deiner Tochter kommst, kannst du keinen hellblauen Flauschanzug im Aufenthaltsraum entdecken. Du stehst vor dem Zimmer deiner Mutter. Ich bin nur eine Minute hinausgegangen, sagt die Pflegerin, da ist sie gestorben. Ich glaube, sie wollte allein sein. Deine Hand krampft sich um die Hand deiner Tochter.

 

* "Eine eindringlich-realistische Erzählvariation auf einen Satz von Margit Schreiner."  (O.P. Zier in Die Presse/Spectrum 01/2004)

 

Gedruckt in: Frauenbild (Literaturedition Niederösterreich, 2003

© 2003 Sabine M. Gruber

 

 

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