(…) Gemeinsam mit Sophia begibt sich der Leser auf die Suche nach den Gründen für die Katastrophe, in der Vergangenheit, rückwärts bis an den Anfang der Beziehung. Wie konnte es zu der lieblosen Kälte und einer solchen Brutalität zwischen zwei Menschen kommen, die seit zehn Jahren zusammen leben?

Sophia stellte sich ganz in seine Dienste, umsorgte und liebte Marcus und versuchte, ihm bei der Überwindung seiner Ängste und Zwänge zu helfen, ihm, der rot wird, „wenn er einen Raum betritt, in dem sich andere Menschen befinden“. Sie fühlte sich verantwortlich für ihn, weil sie ihn sich vertraut machte – „wie ‚Der Kleine Prinz‘„. Sie fühlte, dass sie ihm schuldig sei, dass die Beziehung „in alle Ewigkeit nicht scheitern“ durfte. Sophia findet daher stets neue Geschenke, organisiert und bucht zahlreiche kurze Reisen in die Steiermark, in die Türkei, nach Italien, nach Island und andere Länder; sie hofft, dass die gemeinsamen Erlebnisse die Liebe neu entfachen. Dabei weiß sie eigentlich, dass sie sich überflüssig macht, indem sie hilft. Marcus nimmt sie nicht in den Arm, er stößt sie zurück und verknappt seine Zeit. „Sie steht früh auf und geht spät schlafen. Sie ist stets heiter und lässt sich nichts anmerken. Gelegentlich wächst ihr alles über den Kopf.“ Alle sollten glücklich sein – auch ihr psychisch kranker Bruder und ihre „wankelmütigen Freundinnen“ –, nur sich selbst vergaß sie. Deswegen ist die Katastrophe unausweichlich.
Erinnerungen zerlegt Sophia in eine Tonspur, eine Bildspur und eine Fühlspur, erklärt sie ihrem Psychotherapeuten. „Ein Farbfilm läuft vor und zurück, stumm, und friert ab und zu ein, als Standbild“. Standbilder prägen ihr Leben – in der Form von Fotografien. Mit einem Foto hatte die Beziehung von Sophia und Marcus begonnen – „Des Fotos wegen hat er mich angemailt.“ Die Fotografie ist seither Spiegel ihrer Reisen, auf denen der Leser Sophia und Marcus folgt, und die Möglichkeit, schöne Augenblicke zu konservieren. Für Sophia stellen die Standbilder die Wahrheit dar. Auch Marcus fotografierte, weil sie ihm einen analogen Apparat schenkte, seine archaischen Fotos sind aber wertloser und verächtlicher. Ein Foto, das er von Sophia knipst, „wird eine aparte, zierliche Frau zeigen, in sich gekehrt lächelnd“, obwohl sie doch nach innen weint, „gefriergetrocknet“.
Mit Blick auf die Fotos sieht der Leser die Katastrophe nahen. Sophia verleugnet die subjektive Konstruktion der Fotos. Sogar kurz vor dem gewaltsamen Ende der Beziehung fotografiert Sophia Marcus, allerdings während dieser schläft. Sie nimmt Marcus in den Sucher, wenn „er vollkommen entspannt aussieht“. Das Verhältnis zwischen dem Realen, seinem Bild und dessen Wahrnehmung wird immer weiter verrückt. Als Fotografin entscheidet sich Sophia bewusst für die guten Aspekte ihrer Beziehung, sie setzt ganz auf die trügerische Beweiskraft der Bilder, auf denen Marcus „friedlich eingeschlafen“ ist. Fotos erinnern sie darüber hinaus an andere Fotos aus vermeintlich glücklicheren Tagen. Nachdem sie ein gemeinsames Fotoalbum mit dem trügerischen Glanz der digitalen Fotografie erstellt hat, hegt sie keinen Zweifel mehr „an der unbegrenzten Haltbarkeit ihrer Beziehung“. Sophia will die zunehmende Entfernung zu ihrem Partner nicht sehen. Sie steht der Kälte ihres Freundes machtlos gegenüber. In der unerfüllten Sehnsucht Sophias manifestiert sich das ganze Elend des eigenen Daseins, über das Sophia in einer Mail an Marcus geschrieben hatte: „Alles, was hätte sein können“.
Vor zwei Jahren hat Sabine Gruber mit dem Erzählband „Kurzparkzone“ die Grundlage für ihren neuen Roman gelegt. Die zwölfte Erzählung der Sammlung von verpassten Liebesgeschichten und spontanen Liebesabenteuern bildet ein Kapitel der Beziehungsreise von Sophia und Marcus. Wort für Wort hat die Autorin die Erzählung übernommen und in ihr neues Buch integriert. Der Leser erfährt somit, was der Grund für Sophias Kampf um die Liebe und gegen die diffusen Bedrohungsgefühle ihres Partners ist und wohin dieser noch führen wird. Dass Sabine M. Gruber eine aufmerksame Beobachterin und eine detailgenaue Erzählerin ist, ist seit der Veröffentlichung ihres Erzählbandes bekannt.
Doch es beeindruckt, wie viel intensiver ihr neuer Roman geschrieben ist. Die unterschwellig melancholische Tonlage des Textes umfängt den Leser sofort und trägt ihn durch die Handlung. Eine unendliche Traurigkeit kriecht aus den Seiten eines Buches, dessen Titel und Einband leichte romantische Literatur vermuten ließen und das durch einen geschickten Aufbau, versteckte Motive und sprachliche Raffinesse überzeugt. Es nimmt kein „gutes Ende“ und ist trotz des vorweg genommenen gewalttätigen Ausgangs an Spannung kaum zu überbieten. Denn Grubers Roman hält viele überraschende Wendungen bereit. Da ist beispielsweise der Tod des Bruders und die schockierende Nichtanteilnahme ihres Partners oder das Verbot der literarischen Betätigung, das Marcus für seine Freundin ausspricht. Oder die fehlende Unterstützung Sophias, sogar ihr Psychotherapeut kann ihr nicht helfen und komplementiert sie aus seiner Praxis. Es wird immer neue Spannung aufgebaut, die kaum auszuhalten ist und fesselt. Die „Beziehungsreise“ lohnt sich.


(Rezension von Thorsten Schulte erschienen auf literaturkritik.de)